Im Gespräch mit Dr. Jürgen Wilder: „Der Mobilitätssektor erlebt gerade eine Systemumkehr“.

Mit welchen Erwartungen Knorr-Bremse Vorstand Dr. Jürgen Wilder zur weltgrößten Schienenverkehrsmesse InnoTrans fährt – und welche Antworten das Unternehmen auf die drängenden Mobilitätsfragen der Zukunft liefert.

Dr. Jürgen Wilder ist seit September 2018 Mitglied des Vorstands der Knorr-Bremse AG, verantwortlich für die Division Systeme für Schienenfahrzeuge.
Der promovierte Physiker war zuvor als Vorstandsvorsitzender der DB Cargo tätig und dort für den weltweiten Schienengüterverkehr zuständig.
Dr. Jürgen Wilder verantwortet zusätzlich zur Division Systeme für Schienefahrzeuge die Digitalisierung im gesamten Konzern.

Herr Dr. Wilder, vier Jahre nach der letzten InnoTrans trifft sich die weltweite Bahnindustrie wieder in der deutschen Hauptstadt. Wie ist es um Ihre Vorfreude bestellt?

Unsere Branche erscheint mir oft wie eine große Familie. Hat man sich lange nicht gesehen, ist die Freude aufs Wiedersehen groß. Gerade in diesem Jahr: Wir alle haben uns persönlich weiterentwickelt, viele von uns haben sich in den letzten zwei Jahren aber vor allem virtuell gesehen, da die Messe pandemiebedingt einmal ausgefallen ist. Zugleich hat die Branche entscheidende Schritte nach vorne gemacht, oft in Form von wegweisenden Innovationen. Auf den Dialog über diese Entwicklungen bin ich sehr gespannt. Ganz besonders deshalb, weil wir ihn nun endlich wieder persönlich führen können.

Die Messe fällt in eine Zeit, in der sich der Schienenverkehr grundlegend wandelt...

… das stimmt. Einerseits muss die Welt massiv CO2 einsparen. Andererseits steigen die Bedarfe des Personen- und Gütertransports stetig. Folglich ist gerade der Bahnsektor global systemrelevant – und deshalb einem spürbaren Veränderungsdruck ausgesetzt. Hochinnovative Lösungen sind nötig, die den Schienentransport zuverlässiger und vernetzter, sicherer und sauberer, komfortabler und effizienter machen. An unserem Messestand machen wir erlebbar, wie Knorr-Bremse diese Herausforderung annimmt, zu ihrer Bewältigung beiträgt.

Knorr-Bremse fokussiert dort vier Lösungsräume. Welcher Gedanke wohnt dem inne?

Für uns ist der Fokus aufs große Ganze essenziell. Deshalb ordnen wir unsere Antworten vier zentralen Herausforderungen der Schienenmobilität zu. Sie ergeben sich untrennbar aus den Bedürfnissen von Fahrzeugherstellern und -betreibern: Wie sie Energieverbräuche und Emissionen senken und dadurch ihren ökologischen Fußabdruck verbessern. Zum Beispiel mit unserem neuen Klimasystemkonzept oder der bedarfsgesteuerten und damit wesentlich energieeffizienteren Luftversorgung für Bremssysteme. Wie sie mit unseren evolutionär weiterentwickelten Bremstechnologien oder unseren neuen Einstiegssystemen ihren Traffic Flow, den Passagierfluss, dynamisieren. Oder wie sie mit Prozessoptimierungen und Remote-Diagnosen ein völlig neues Effizienzlevel in Zugbetrieb und Wartung erreichen. Und weil neue Technologien und Digitalisierung so verwoben sind wie nie zuvor, flankieren wir diese Kernbereiche mit Smart Solutions in Form von intelligenten Applikationen, Funktionen und Services.

Knorr-Bremse @InnoTrans 2022

1. Ecological Footprint: Wie können Kunden wesentliche Beiträge für eine nachhaltige Schiene leisten – und den Fußabdruck ihrer Fahrzeuge verbessern?

2. Traffic Flow: Wie lassen sich Schienenkapazität und Passagierströme optimieren?

3. Train Operations & Maintenance: Wie können Effizienz und Prozesse im Flottenbetrieb verbessert werden?

4. Smart Solutions & Applications: Erst smarte Applikationen machen das Schienenfahrzeug wirklich smart – damit der Ecological Footprint optimiert, der Traffic Flow dynamisiert oder die Train Operation & Maintenance auf ein neues Level gehoben werden kann.

Was bedeutet das auf Kundenseite?

Es gibt nicht die eine Standard-Lösung, die für alle passt. Deshalb bringen wir unsere Kunden mit einem Ökosystem aus Assets in die Lage, aus diesen vier Landschaften ihr optimales, weil maßgeschneidertes Lösungspaket aus Produkten, Systemen und Services zusammenzustellen. Automatisierung, Konnektivität und Big Data lauten dabei drei bestimmende Stichworte. Dieses Ökosystem haben wir durchgehend harmonisiert: Wer bei uns kauft, nimmt Risiko aus seinem Portfolio.

Welche Entwicklungen treibt Knorr-Bremse voran, damit die Schiene wettbewerbsfähig bleibt, wo sie es schon ist – und wettbewerbsfähig wird, wo sie es werden muss?

Digitalisierung und Automatisierung wirken als Türöffner für die wichtigen Innovationsschübe der kommenden Jahre. Es wird bald keine neue Funktionalität mehr geben, die nicht auf durchgängig digitalisierten Zugsubsystemen fußt. Mit unserem Tiefenwissen, unserem Domain-Know-how in den Bereichen Mechanik und Mechatronik sowie unserer Digitalexpertise sind wir bereit für die wirklich großen Schritte: Mit dem Reproduzierbaren Bremsweg (RBD) bremsen wir auch unter widrigen Bedingungen noch punktgenauer. Dadurch lassen sich Zugtaktungen erhöhen, mehr Menschen fahren auf bestehender Strecke. Mit dem intelligenten Güterzug treiben wir den dringend nötigen Wandel im Warentransport auf der Schiene voran. Unsere automatisierten Lösungen und Prozesse wie die Digitale Automatische Kupplung (DAK) machen ihn planbarer, schneller und flexibel – entscheidende Attribute für die zukünftig so wichtigen durchgängigen Mobilitätsketten.

Zu den Stichworten Reproduzierbarer Bremsweg und intelligenter Güterzug: Wo steht Knorr-Bremse dort aktuell?

Bei der RBD-Entwicklung haben wir gerade eine konkrete Betriebssimulationen im Hamburger S-Bahnnetz durchgeführt, die das erhebliche Potenzial unserer Lösung einmal mehr unterstrichen hat. Gerade im Zusammenspiel mit weiterer Technik etwa für den automatisierten Zugbetrieb zeigt sich, wie RBD zu höherer Zugtaktung und damit mehr Kapazität im Netz beitragen wird. Bei der automatisierten Bremsprobe stehen wir vor einem Testprojekt mit einem deutschen Bahnbetreiber. Ab 2023 soll ein Güterzug mit unserem Automatisierungssystem ausgerüstet werden.

Letzte Frage: Wo sehen Sie den Schienenverkehr in zehn Jahren?

Der Mobilitätssektor erlebt gerade eine Systemumkehr. Während große Teile der Bahninfrastruktur Mitte des vergangenen Jahrhunderts geschaffen und dann über Jahrzehnte bespart wurden, wird jetzt wieder in eine starke und leistungsfähige Schiene investiert. Das ist richtig so, da in diesen bestehenden Netzen gigantisches Potenzial liegt. Politik, Wirtschaft, Öffentlichkeit – viele haben die Zeichen der Zeit erkannt. Dass nachhaltiger Verkehr vor allem über die Schiene läuft, sollte bald zur Selbstverständlichkeit werden. Wenn es also um die Zukunft der Bahn geht, wird mir ganz und gar nicht bange – im Gegenteil.

Back to overview