Die Verkehrswende hin zur Schiene ist in vollem Gange. Doch gerade in Ballungszentren stoßen die Netze zusehends an ihre Grenzen. Der Bau neuer Trassen ist teuer und aufwendig. Innovative digitale Technologien zur verbesserten Auslastung der Schieneninfrastruktur gelten als attraktive Alternative. Mit dem Entwicklungsprojekt „Reproduzierbarer Bremsweg“ leistet Knorr-Bremse dazu einen entscheidenden Beitrag.
Die Magnetwirkung der Städte ist ungebrochen. Lebt heute noch etwas über die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten, werden es laut World Urbanization Prospect der Vereinten Nationen im Jahr 2050 rund zwei Drittel sein. In absoluten Zahlen: 2,5 Milliarden Stadtbewohner mehr. Massen, die der Individualverkehr auf der Straße nicht mehr schultern kann. Doch wo mehr Verkehr auf die Schiene verlagert werden soll, sind entweder neue Trassen nötig – oder eine effizientere Auslastung bestehender Schienennetze.
Gegenwärtig setzen sehr weit gesteckte Abstände zwischen aufeinander folgenden Zügen einer effizienteren Auslastung natürliche Grenzen. Der Hintergrund ist ein Sicherheitsgedanke: Auch unter den ungünstigsten Bedingungen müssen Bahnen innerhalb einer festgelegten Strecke sicher zum Stehen kommen. Dafür maßgeblich sind einerseits die Umweltbedingungen. Sind die Schienenoberflächen nass oder trocken, sauber oder schmutzig? Zusammen mit Faktoren wie unterschiedlich abgefahrenen Rädern, Toleranzen in der Lasterfassung oder schwankenden Bremsbelag-Reibwerten summieren sie sich zu hohen Puffern zwischen zwei Zügen auf. Sicher ist sicher.
Doch was, wenn sich die Grenzen der Zugfolgezeiten mit zukunftsweisenden Bremstechnologien – und ohne Kompromisse bei der Sicherheit – verschieben ließen? Bremssysteme könnten ganz wesentlich dazu beitragen, Zugtaktungen zu erhöhen und Fahrpläne merklich zu stabilisieren. Mehr Menschen – Städter, Reisende, Pendler – wären spürbar schneller und effizienter von A nach B unterwegs.
Haben große Sicherheitspuffer ausgedient?
Das aktuelle Entwicklungsprojekt zu diesem Thema steht bei Knorr-Bremse unter dem Titel „Reproduzierbarer Bremsweg“, kurz RBD (Reproducible Braking Distance). Ein Team von Ingenieuren bei Knorr-Bremse integriert dafür – weltweit erstmals – drei Pfeiler: die neuartige Verzögerungsregelung (Deceleration Control, DCC), den neuen Gleitschutz WheelGrip Adapt sowie ein nun entlang des gesamten Zuges ausgelegtes intelligentes Sandungssystem. „Im Zusammenspiel dieser Technologien gelingt es uns, die statistische Streuung der Bremsweglängen entscheidend zu reduzieren“, erklärt Matthäus Englbrecht, Bereichsleiter Global Brake Systems bei der Knorr-Bremse Systeme für Schienenfahrzeuge GmbH. „Wir könnten bei gleichem Sicherheitsniveau Zugabstände reduzieren, den Betriebsablauf bei bereits sehr engen Taktzeiten weiter stabilisieren und somit die bestehende Infrastruktur besser auslasten.“
Basis des reproduzierbaren Bremswegs ist eine in jedem Wagen des Zugverbands verbaute Sensorik. Sie liefert der Bremssteuerung in Echtzeit die tatsächliche Wirkung der eingesetzten Bremskraft. Ebenso schnell justiert die Verzögerungsregelung die Differenz zwischen Sollwert und angeforderter Verzögerungskraft nach. „Dadurch erreichen wir die im jeweiligen Augenblick optimale Verzögerung unter Berücksichtigung des jeweiligen Streckengefälles – und zwar unabhängig von Ladungszustand oder Verhalten des Reibmaterials. Die Folge ist ein stark reduzierter Streubereich der maximalen Bremswege.“ Das bedeutet: Das Restrisiko, dass ein Zug in einem bestimmten und klar definierten Streckenabschnitt einmal nicht sicher zum Stehen kommt, sinkt deutlich.
An die Verzögerungsregelung docken die Ingenieure nun im Rahmen des RBD-Entwicklungsprojektes einen neuen Gleitschutz an. Man könnte sagen: Ein Antiblockiersystem für Schienenfahrzeuge, damit sich das Fahrzeug beim Bremsen nicht mehr über die sich langsamer drehenden Räder hinwegschiebt. Denn bislang waren Gleitschutzsysteme nur auf einen einzigen festen Regelbereich optimiert. Der neue Algorithmus für den Gleitschutz WheelGrip Adapt ist um einen zweiten Regelbereich erweitert, in den das System adaptiv wechseln kann. Damit lässt sich eine deutlich höhere Bremskraft nun auch auf Schienenzustände übertragen, in denen bislang praktisch keine Kraft mehr übertragen werden konnte.
Den dritten RBD-Pfeiler bildet das erstmals zugweit ausgelegte und situationsangepasste Sandungsmanagement. Die Systeme blasen unter widrigen Bedingungen die optimale Menge Sand zwischen Rad und Schiene und erhöhen damit den Kraftschluss. Bislang sind Schienenfahrzeuge häufig ohne oder nur mit einem gesandeten Radsatz pro Fahrtrichtung unterwegs. Ziel ist ein auf mehrere Radsätze verteiltes System, das perfekt auf situative Faktoren wie Schienenverschmutzung, Sandverbrauch, Einbauvolumen und Lebenszykluskosten abgestimmt ist. Der Effekt der Funktionalität: Zwischen Rad und Schiene wird mehr Bremskraft übertragen – und Bremswege auf schlechten Schienenverhältnissen verkürzt.
RBD zentral für das autonome Fahren auf der Schiene
Das Zusammenwirken der drei Technologien und die resultierende gesteigerte Bremswegstabilität ermöglichen nicht nur kürzere Zugabstände und damit perspektivisch „mehr“ Züge, die in und zwischen einzelnen Stadtvierteln und Städten, Metropolen und Regionen verkehren. „Die Fahrplanstabilität wird sich deutlich verbessern lassen“, ist Englbrecht überzeugt. Denn: Dauert beispielsweise bei einer eng getakteten Metro ein Fahrgastwechsel auch nur wenige Sekunden länger, überträgt sich die Verzögerung oft unmittelbar auf nachfolgende Züge. Angenommen, ein gewisser Teil der durch RBD gewonnenen Zeit wird für die Erhöhung der Kapazität verwendet und der andere Teil als zusätzlicher Zeitpuffer im Fahrplan vorgehalten, dann spürt ein nachfolgender Zug nichts mehr von einem längeren Bahnsteigaufenthalt des Vordermanns. Das Risiko des sogenannten Ziehharmonika-Effekts – Autofahrer kennen ihn, wenn der Verkehrsfluss durch ständiges Beschleunigen und Abbremsen wie von selbst ins Stocken gerät – ist gebannt.
Perspektivisch zahlt der reproduzierbare Bremsweg auch auf das autonome Fahren (Automatic Train Operation, ATO) ein – ein zentrales Zukunftsszenario im Schienenverkehr, an dessen Realisierung Knorr-Bremse schon heute konsequent mitarbeitet. So wird ein Bremssystem mit RBD am ATO-Zug auch Funktionen übernehmen, die bisher nur geübte Triebfahrzeugführer leisten konnten. Etwa, indem sie unvorhergesehene Situationen, wie plötzlich nass werdende Schienen, mit ihrem reichen Erfahrungsschatz vorausschauend antizipieren konnten. Kurze Reaktionszeiten innerhalb des Fahrzeugs vermeiden darüber hinaus zeitintensivere Regelungen über ATO- und Leittechnik-Systeme außerhalb des Zuges. Diese können gerade bei schnell auftretenden Situationen nur eingeschränkt reagieren und benötigen zudem teure Investitionen wie zusätzliche Balisen, also Referenzpunkte auf der Strecke.
Einzelne RBD-Technologien bereits verfügbar
Wenngleich das Ziel des RBD-Entwicklungsprojektes eine neuartige Bremsarchitektur ist, die sich aus der Vernetzung der Komponenten ergibt, spielen die individuellen Technologien ihren Mehrwert teilweise schon heute aus: Das intelligente Sandungssystem verbaut Knorr-Bremse bereits in ersten Projekten. Die Serienreife der DCC-Verzögerungsregelung in Kombination mit dem adaptiven Gleitschutzsystem erwartet das Unternehmen für das Jahr 2023.
Die Einführung des RBD-Systems in den Markt ist neben technologischen und zeitlichen Herausforderungen auch von regulatorischen Fragen abhängig, weiß Englbrecht. „Industrie, Infrastruktur, Betreiber und zuständige Behörden müssen in intensivem Dialog und systemübergreifend die Schnittstellen und Verantwortlichkeiten abstimmen, um dem Gesamtsystem den Weg zu ebnen“, sagt der Experte. Insgesamt ist der reproduzierbare Bremsweg als Systemansatz klar im Kontext politischer Initiativen wie zu Beispiel dem European Green Deal oder dem deutschen „Schienenpakt“ zu sehen. Beide wollen die Schiene stärken, Passagierzahlen steigern und zur Verkehrsverlagerung beitragen – und damit die Weichen für eine umfassend nachhaltige Urbanisierung stellen.
"Bremsen limitieren nicht. Mit einer guten Bremse kann ein Zug länger schneller fahren."
Matthäus Englbrecht, Bereichsleiter Global Brake Systems bei Knorr-Bremse Systeme für Schienenfahrzeuge, über den Effekt des reproduzierbaren Bremswegs auf den Schienenverkehr - und wie er sich berechnen lässt.
Herr Englbrecht, der reproduzierbare Bremsweg ist in der Branche schon länger ein großes Ziel. Warum gewinnt er gerade jetzt an Aktualität?
Zum einen ermöglicht uns die rasante Digitalisierung der Schienenfahrzeuge die technologische Umsetzung. Wir vernetzen die einzelnen Bestandteile von Bremssystemen bis auf Komponentenebene. Man könnte sagen: Wir machen die Bremssysteme nochmals eine Stufe intelligenter. Hinzu kommt: In den Ballungsräumen stoßen Schieneninfrastrukturen an ihre Grenzen. Mit RBD eröffnen wir die Möglichkeit, Züge unter allen denkbaren Umwelteinflüssen stets innerhalb eines festgelegten Bremswegs abzubremsen. Das stabilisiert den schon heute engen Betrieb und schafft Platz für zusätzliche Züge
Den potenziellen Effekt von RBD auf die Zugfolgezeiten demonstrierte Knorr-Bremse mit einer exemplarische Simulationsstudie. Wie lief sie ab?
Die Studie fußt auf dem Tool „Open-Track“. Für möglichst realistische Ergebnisse können dort beispielhafte Streckennetze, Haltestellenabstände, Gefälle sowie typische Passagierwechselzeiten zugrunde gelegt werden. Auch die Wechsel von ober- und unterirdischen Streckenabschnitten, unterschiedlich gute Schienenzustände sowie verschiedene Fahrzeuge können berücksichtigt werden. Zusammen mit dem Berliner Institut für Bahntechnik GmbH und im Rahmen des europäischen Förderprogramms Shift2Rail haben wir die Effekte auf die Zugfolgezeiten bei U-Bahnen, S-Bahnen, Regionaltriebzügen und Hochgeschwindigkeitszügen fokussiert.
Welche Erkenntnisse brachte die Studie zum reproduzierbaren Bremsweg?
Je nach Zuggattung, Signalisierung und Haltestellenabständen zeigen die Berechnungen Potenziale an verkürzten Zugfolgezeiten, die zwischen fünf und 20% betragen. Letzteren Wert ergab die Simulation für Hochgeschwindigkeitsstrecken mit relativ hoher Zugtaktung im artreinen Verkehr. Das größte Potenzial hinsichtlich eines RBD-Effekts auf die Verkehrsströme liegt jedoch bei Metros, S-Bahnen und Vorstadtzügen. Also genau auf jenen Strecken, die eine Hauptlast der fortschreitenden Urbanisierung tragen. Bei U- und S-Bahnen liegen die Spitzenwerte bei bis zu 19 respektive 16% verkürzbaren Zugfolgezeiten. Das ist angesichts bereits stark optimierter Betriebsabläufe sehr vielversprechend. Hier zeigt sich einmal mehr: Bremsen limitieren nicht. Mit einer guten Bremse kann ein Zug länger schneller fahren.