Die Transformation im Nutzfahrzeugbereich ist in vollem Gange. Entscheidende Treiber sind der Trend hin zur Emissionsreduktion und die Forderungen nach Technologien für die E-Mobilität und das automatisierte Fahren. Eine Schlüsseltechnologie für beides ist die vollelektrische Lenkung, die 2025 in Serie gehen wird. Knorr-Bremse rüstet dann die Flotte eines führenden Lkw-Herstellers aus. Aber wie funktioniert die „Electric Power Steering“ von Knorr-Bremse? Und welche Aussichten hat es im Markt?
Wer einmal mit einem alten VW Käfer eingeparkt hat, weiß genau, welchen wertvollen Dienst eine Servolenkung leistet. Sicher, diese kraftraubenden Zeiten liegen inzwischen Dekaden zurück. Und so wie der gute alte VW Käfer heute größtenteils verschwunden ist, nimmt auch die Zahl der Verbrennungsmotoren zukünftig immer mehr ab. Ob damit auch die Servolenkung verschwindet? Nein. Die neuen E-Nutzfahrzeuge besitzen allerdings andere Lenksysteme als diejenigen, die seit Jahrzehnten zur Anwendung kommen. Denn die klassische Servolenkung bezieht ihre Energie direkt vom Verbrennungsmotor. Unmöglich in einem E-Nutzfahrzeug.
Die Lösung hört auf den Namen „Electric Power Steering“, kurz EPS. Knorr-Bremse bringt als erster Zulieferer im Nutzfahrzeugbereich dieses vollelektrische Lenksystem auf den Markt. Und der Markt wartet geradezu darauf. Befeuert wird die Nachfrage durch den Wandel hin zur E-Mobilität, speziell in Europa angetrieben durch den Green Deal der EU. Zuletzt schlug die EU-Kommission vor, dass alle neuen schweren Nutzfahrzeuge ab 2030 45 Prozent weniger CO2 als im Vergleichsjahr 2019 ausstoßen dürfen. Ab 2035 sollen es schon 65 Prozent und ab 2040 sogar 90 Prozent weniger sein.
Bei der Erfüllung der CO₂-Vorgaben zeigt die EPS ihre Stärken. Wenn die EU den Schadstoffausstoß eines Nutzfahrzeugs bewertet, generiert die EPS deutlich mehr Punkte als alle anderen Systeme.
Peter Heimbrock – Director Global Technical Sales Steering & Lead Location Düsseldorf
Electric Power Steering: Der Unterschied
Doch die EPS hilft nicht nur indirekt als „Enabler“-Technologie für die E-Mobilität bei der Reduktion von Emissionen. Sie ist auch für den Einsatz in Nutzfahrzeugen mit Verbrennungsmotoren geeignet. Hier senkt sie zielgerichtet den Kraftstoffverbrauch.
Warum das so ist? Peter Heimbrock, Director Global Technical Sales Steering & Lead Location Düsseldorf, erklärt: „Im Lenksystem eines konventionellen Nutzfahrzeugs liefert eine außerhalb des Systems verbaute Hydraulikpumpe die Energie, die den Fahrer beim Lenken unterstützt. Diese Pumpe wird permanent vom Verbrennungsmotor angetrieben und sorgt für einen andauernden Fluss von Hydrauliköl im Lenksystem. Über dieses Öl wird der Druck aufgebaut, der bei der Lenkbewegung hilft. In der rein elektrischen EPS von Knorr-Bremse erzeugt die Energie ein Elektromotor, der in das System integriert ist. Dieser setzt zwar ebenfalls ein hydraulisches Getriebe in Gang, aber der entscheidende Unterschied und auch Vorteil dabei ist, dass der Ölfluss im System nicht permanent aufrechterhalten werden muss. Der Elektromotor, der die Kraft zur Lenkunterstützung erzeugt, muss nur laufen, wenn auch gelenkt wird. „Power-on-Demand“ heißt das Prinzip dahinter. Den Rest der Zeit, etwa, wenn auf der Autobahn geradeaus gefahren wird, verbraucht die EPS keine Energie, anders als die Hydraulikpumpe im herkömmlichen System.“
73 Prozent weniger Kraftstoff, weniger Emissionen, mehr Reichweite
Die Einsparungen lassen sich beziffern. Nach Knorr-Bremse Tests sinkt der Kraftstoffverbrauch durch das Lenksystem von 0,22 Liter je 100 km durch ein konventionelles hydraulisches System auf 0,06 Liter durch eine EPS von Knorr-Bremse. Das sind 73 Prozent weniger, und der Gesetzgeber honoriert das. „Bei der Erfüllung der CO2-Vorgaben zeigt die EPS ihre Stärken. Wenn die EU den Schadstoffausstoß eines Nutzfahrzeugs bewertet, generiert die EPS deutlich mehr Punkte als alle anderen Systeme“, erklärt Peter Heimbrock und fügt hinzu: „Die Energieeinsparung durch die EPS wird natürlich auch bei Elektrofahrzeugen spürbar: in Form von größerer Reichweite.“
Das EPS-Lenksystem von Knorr-Bremse bringt noch einen zusätzlichen Vorteil hinsichtlich Einsparung mit sich: „Unsere EPS ist eine Stand-Alone-Lösung“, sagt Peter Heimbrock. „Damit fallen alle externen Komponenten wie Hydraulikpumpen, Verschlauchung und Ölreservoirs weg. Das bedeutet weniger Bauraum und weniger Montage- und Wartungsaufwand.“ Für Nutzfahrzeughersteller und -betreiber bedeutet das geringere Kosten.
Die klügere Hydraulik
Dass die Entwickler von Knorr-Bremse für ihr EPS-System auf integrierte Hydraulik setzen, um die Kraft des Elektromotors auf die für den Lenkvorgang benötigte Größe zu skalieren, hat gute Gründe. „Die Alternative wäre ein mechanisches Getriebe. Eine dauerhafte Umsetzung, ohne Spiel und Klappern, ist sehr herausfordernd. Darüber hinaus kann es nicht modular auf den vorhandenen Bauraum adaptiert werden“, erklärt Peter Heimbrock.
Die Entscheidung für das hydraulische Getriebe fiel 2021 nach einer intensiven Abwägung und Erprobung beider Konzepte. Diese Vorentwicklungsphase hatte 2017 im Lenkungsteam am Standort Schwieberdingen begonnen, unterstützt von Teams in Düsseldorf und Budapest. Und die Entscheidung pro Hydraulik erweist sich als richtig: Nach erfolgreichen B-Muster Tests und weiteren anstehenden Musterphasen mit Wintererprobung, ist die Serieneinführung 2025 geplant.
Bereit für automatisiertes und autonomes Fahren
So zentral und groß die Vorteile des EPS-Lenksystems in Sachen E-Mobilität und Kraftstoffeffizienz sind – es darauf zu reduzieren wäre falsch. Denn auch für einen weiteren Trend der Nutzfahrzeugindustrie ist die EPS eine wichtige Basis: das automatisierte Fahren.
„Bei der EPS kann die Lenkung unabhängig vom Fahrer angesteuert werden, zum Beispiel für eine aktive Spurhaltefunktion“, erläutert Peter Heimbrock. Das ist heute zwar auch schon durch sogenannte Überlagerungslenkungen (Torque Overlay Steering) möglich. Hierbei wird im Bedarfsfall durch ein zusätzliches System die Lenkbewegung in der rein hydraulisch unterstützen Lenkung elektrisch überlagert. „Aber die EPS geht einen Schritt weiter. Die EPS ist nicht mehr auf andere externe Systeme zur Überlagerung des Drehmoments angewiesen. Sie kann direkt angesteuert werden – und bringt daneben all die schon angesprochenen Vorteile in puncto CO2-Reduktion mit sich“, erklärt Peter Heimbrock. Selbstverständlich ist die EPS damit auch bereit für den letzten großen Schritt in Richtung automatisiertes Fahren, die sogenannte Steer-by-Wire-Technologie.
Die sichere Basis für Steer-by-Wire
In einem Steer-by-Wire-Lenksystem ist das Lenkrad nicht mehr, wie heute noch, über die Lenksäule mechanisch mit der Lenkachse verbunden. Hier werden die vom Fahrer auf das Lenkrad übertragenen Bewegungen elektronisch erfasst und als elektronische Signale an die Achse übertragen. Dort führen Aktuatoren – wie beispielsweise die EPS von Knorr-Bremse – die Bewegung aus. „Mit diesem Lenksystem könnte das Lenkrad sogar ganz entfallen. Schließlich kann unabhängig vom Lenkrad durch Algorithmen gelenkt werden.“
Keine feste, mechanische Verbindung mehr zwischen Lenkrad und Lenkachse, Signalübertragung per Kabel: Wer zum ersten Mal darüber nachdenkt, verspürt möglicherweise leichtes Unbehagen. Was, wenn die elektronische Steuerung ausfällt oder fehlerhaft arbeitet? Der Fahrer kann dann nicht mehr eingreifen.
Um Steer-by-Wire sicher umzusetzen, muss ein Lenksystem Notfalloptionen besitzen, Systeme, die einspringen, wenn das Hauptsystem versagt. Im Fachjargon ist hier von Redundanz die Rede.
Peter Heimbrock kann beruhigen: „Die EPS von Knorr-Bremse bildet die nötige Redundanz voll ab. Es sind sowohl ein redundanter Elektromotor verbaut als auch die elektronische Steuerung jeweils doppelt in Hard- und Software. Es gibt also zwei Microcontroller. Ein System kann übernehmen, wenn ein anderes ausfällt“, erklärt Peter Heimbrock.
Ich bin sicher, dass die EPS signifikante Marktanteile gewinnen und mittelfristig für große Teile der Nutzfahrzeug-Applikationen der Industriestandard werden wird.
Fabian Stambrau – Vice President Global Steering bei Knorr-Bremse
Wird EPS zum Industriestandard?
Die Electric Power Steering unterstützt und ermöglicht die wichtigsten Entwicklungen in der Nutzfahrzeugbranche – die Elektrifizierung und das automatisierte Fahren. Die Frage, ob sie zum Industriestandard wird, liegt da nahe. Fabian Stambrau, Vice President Global Steering bei Knorr-Bremse, beantwortet sie optimistisch: „Ich bin sicher, dass die EPS signifikante Marktanteile gewinnen und mittelfristig für große Teile der Nutzfahrzeug-Applikationen der Industriestandard werden wird. In einigen Applikationen wird es aber sicherlich sinnvoll sein wird, die konventionellen Lenksysteme beizubehalten.“ Fragt man den Leiter des Globalen CoC für Lenkung bei Nutzfahrzeugen nach zusätzlichen Treibern des Systems, gibt er für Knorr-Bremse ebenfalls eine zuversichtliche Antwort: „Zum Thema Steer-by-Wire untersuchen wir in einem Vorentwicklungsprojekt u.a. welche Redundanzen im Gesamtsystem inklusive Bordnetz notwendig sind, um diese Technologie sicher im Feld abbilden zu können.“ Und die Basis dafür? „Die wird die EPS sein.“