Kein Zufall

Rund 11.000 erteilte und angemeldete Einzelpatente laufen auf Knorr-Bremse. Mehr als 80 % der wegweisenden Brancheninnovationen der vergangenen Jahrzehnte stammen vom weltweit führenden Hersteller von Bremssystemen für Schienen- und Nutzfahrzeuge. Wer eine solche Innovationsleistung erbringt, der arbeitet offenbar mit einem leistungsfähigen Innovationsprozess. Wie dieser gelebt wird? Das verraten zwei Experten.

Aus guten Ideen gewinnbringende Innovationen zu machen, ist eine Kunst. Und die beherrscht Knorr-Bremse: Seit Jahrzehnten kommen nahezu alle wichtigen Brancheninnovationen von den Bremsenspezialisten aus München. Allein im Bereich Schiene sind es neun von zehn. Gut so, denn jede erfolgreich im Markt eingeführte Neuerung ist ein wirtschaftlicher Treiber für die Zukunft.

Für diese ist das Unternehmen dank hochqualifizierten Mitarbeitern, effizienten Verfahren und gezielten Investitionen gut aufgestellt: Mit über 6% seines Umsatzes steckte Knorr-Bremse auch im Pandemiejahr 2020 mehr als jeder andere Marktteilnehmer in zukunftsorientierte Forschungs- und Entwicklungsprojekte. Verantwortlich für den Prozess Innovation bei Knorr-Bremse sind Christian Staahl und Martin Ertl. Staahl ist in der Division Systeme für Nutzfahrzeuge Head of Technology and Innovation Management, Ertl arbeitet in der Division Systeme für Schienenfahrzeuge als Vice President Innovation and Portfolio Management.

Die Technologieführerschaft von Knorr-Bremse basiert ihrer Ansicht nach in erster Linie auf der herausragenden technischen Kompetenz – auf einem tiefen Verständnis der verwendeten Systeme, welches ganzheitliche und hochgradig passgenaue Lösungen für Kunden ermöglicht. Damit sich diese Kompetenz voll entfalten kann, braucht es entsprechende Strukturen: effiziente, transparente und agile Innovationsprozesse. Deren Ziel ist in beiden Divisionen dasselbe: Innovationskraft mit visionärem Blick zu bündeln und zielgerichtet einzusetzen.

"Einfache und effiziente Prozesse ermöglichen Vergleichbarkeit, Steuerung und Orientierug."

sagt Martin Ertl

Er führt als Vice President Innovation and Portfolio Management der Division Systeme für Schienenfahrzeuge Funktionsbereiche wie "Innovation und Technologie" und "Prozesse und Simulation". Zudem steuert er die Portfolien der Entwicklungsprojekte und -produkte.

Analyse und Vision

Mit visionären Blick beobachten die Teams von Staahl und Ertl die großen Veränderungsströme, die das Zusammenleben der Menschen rund um den Globus wandeln – um dann mit ihren Entwicklungen die wichtigen technologischen „Lücken“ zu füllen. Konkret heißt das: Die Entwickler arbeiten mit einem dreistufigen Analysesystem, das an den weltweiten Megatrends Urbanisierung, Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Mobilität ansetzt. Diese werden in der Division Schiene heruntergebrochen auf strategische Fokusfelder und münden dann in konkrete Programme.

So entwickelt sich beispielsweise aus dem Megatrend Nachhaltigkeit das Fokusfeld Life-Cycle-Management und daraus das Programm „Condition Based Maintenance“. „Wir haben immer die Anforderungen der Kunden im Blick“, erklärt Ertl. „Im Fall der zustandsbasierten Wartung von Schienenfahrzeugen geht es im Wesentlichen um Kosteneffizienz und Verfügbarkeit: Werden Komponenten nicht mehr aufgrund festgelegter Wartungsroutinen ausgetauscht, sondern aufgrund ihres tatsächlichen Zustands, spart dies Ressourcen und Geld. Gleichzeitig minimiert sich das Risiko eines Ausfalls bei gut gewarteten Fahrzeugen.“

In ähnlichen Abstufungen geht die Division Nutzfahrzeuge vor: Aus den Megatrends ergeben sich sogenannte Industrietrends und aus diesen Innovationsfelder. „Diese verstehen wir als Suchfelder. Sind sie definiert, beginnt die eigentliche Entwicklungsarbeit“, erläutert Staahl.

Beide Divisionen folgen in ihrer Entwicklungsarbeit diesem vereinfacht dargestellten Ablauf. Die einzelnen Prozessschritte werden agil gehandhabt und auf das jeweilige Innovationsprojekt angepasst:

Orientierung und Struktur

Der Vorteil von klar festgelegten Strukturen liegt für die beiden Experten auf der Hand: „Einfache und effiziente Prozesse ermöglichen Vergleichbarkeit, Steuerung und Orientierung“, sagt Ertl. Nicht jeder Kollege habe den Überblick über den gesamten Ablauf eines Entwicklungsprojektes. Mit klaren Strukturen und eng getakteten Meilensteinen lässt sich überprüfen: Sind wir auf Kurs, inwiefern müssen wir korrigieren, haben wir unser Ziel erreicht? „Das ist essenziell, um Budgets, Zeitpläne und Kapazitäten einzuhalten“, so Ertl. Diese Struktur verspricht zudem eine transparente Rollen- und Verantwortungsteilung. Staahl: „Es gibt dadurch keine Unsicherheiten bei den Beteiligten. Jeder weiß ganz genau, was er beitragen kann, um das gemeinsame Ziel zu erreichen.“

Führung und Überprüfung

Um ihre Entwicklungsarbeit klarer, transparenter und effizienter zu gestalten, setzte die Division Nutzfahrzeuge 2019 einen völlig neuen Technologie- und Innovations-Managementprozess (TIM) auf: „Der frühere Prozess war mit 160 Seiten Erklärung sehr abstrakt. Man konnte ihn nicht wirklich leben“, sagt Staahl. Der neue TIM könne auf einer einzigen Seite dargestellt werden und habe einen weiteren großen Vorteil: Er ist ans Management angebunden. Das heißt, die Mitarbeiter berichten regelmäßig der Führungsebene. Ihre Arbeit wird so stringenter, Ideen und Entwicklungsarbeit können nicht einfach versanden.

Auch für Ertl ist diese Art der Steuerung und Vorgabe von Rahmenbedingungen ein entscheidender Punkt. Unter anderem dadurch vermeide man, bei der Ideenjagd in eine wenig vielversprechende Richtung zu forschen – sprichwörtlich ein „totes Pferd zu reiten“, wie es der Experte nennt. „Gerade radikale und disruptive Innovationsansätze brauchen Zeit und Geduld, um zu einem Erfolg zu werden. Zeichnet sich jedoch ab, dass die gewünschten Ziele so nicht zu erreichen sind, dann sollte man die verfügbaren Ressourcen besser einem erfolgversprechenderen Thema widmen“, sagt Ertl. Die Unternehmenskultur müsse diesen offenen Umgang miteinander unterstützen: „Mutig neue Wege zu gehen – das muss erlaubt sein.“ Staahl geht noch einen Schritt weiter: „Manchmal, wie bei disruptiven Innovationen, muss man Bestehendes sogar bewusst zerstören. Das liegt nicht jedem, schon gar nicht, wenn man selbst daran mitentwickelt hat.“

"Sind die Rollen- und Verantwortungsteilung transparent, gibt es keine Unsicherheiten bei den Beteiligten."

sagt Christian Staahl

Als Head of Technology and Innovationmanagement der Division Systeme für Nutzfahrzeuge ist Christian Staahl für die systematische Identifikation neuer Produkte und Dienstleistungen verantwortlich. Außerdem ist er in diesem Unternehmensbereich für das Management technologischer Chancen und Risiken zuständig.

Teamwork und Einzelleistung

Unterschiedliche Menschen machen ein starkes Team aus. Diversität ist ein Erfolgsfaktor. Denn manchmal müssen sich neue Leute mit ihren ganz eigenen Perspektiven und Ansätzen an eine Lösung machen. So werden Staahl zufolge die überraschendsten Neuerungen oftmals durch Analogien und Wissenstransfer aus anderen Branchen erbracht. Dahinter verberge sich eine Mischung aus fachlicher Kompetenz und geistiger Wachheit: „Solche Entdeckungen sind herausragende kognitive Transferleistungen“, erklärt Staahl. „Man muss seine eigene Problemstellung schon sehr gut verstehen und es dann schaffen, seine Beobachtung auf dieses Problem zu übertragen.“ „Geistesblitze und göttliche Funken gibt es zwar durchaus“, ergänzt Ertl, „nur leider nicht in Serie.“ Letztlich sei Innovation eigentlich nie eine Einzelleistung, sondern Teamwork. Jeder baue auf der Arbeit anderer auf. Das gilt auch in Bezug auf die beiden Divisionen bei Knorr-Bremse. Wo möglich, werden Synergien genutzt, gemeinsame Arbeitsgruppen aufgestellt.

„Die Verkehrsträger Schiene und Straße stellen sehr unterschiedliche Anforderungen an Komponenten. Daher ist das Synergiepotenzial auf der Ebene grundlegender Technologien und Methoden größer als auf der reinen Produktebene“, erläutert Ertl. Als Beispiel nennt er den Bereich Data Analytics, der auf Basis der Erfassung von Daten wie Betriebstemperatur, Laufzeit, Vibrationen oder Akustik einen Rückschluss auf den „Gesundheitszustand“ einer Komponente oder eines Systems zulässt. Divisionsübergreifende Potenziale zur Zusammenarbeit und Synergien gibt es auch in den Bereichen Simulation, Sensorik, künstliche Intelligenz oder Cyber Security.

Gerade der letztgenannte Punkt ist essenziell, um das Unternehmen in einer digitalisierten Welt weiterhin auf Erfolgsspur zu halten. Mit Glück oder Zufall haben Innovationen also selten etwas zu tun. Vielmehr mit der Fähigkeit, Vision und Kundenbedarf, Wirtschaftlichkeit und Investitionsrisiko genau abzuwägen. Damit das gelingt, muss der zugrundeliegende Prozess agil, effizient und transparent sein – und er muss die Mitarbeiter dazu einladen, ihn mit Leben zu füllen.

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