Ein moderner Zug fährt in wolkiger Abendstimmung aus einer Großstadt mit WOlkenkratzern im Hintergrund.

Intelligent und elektrifiziert: Bremsen im Zug der Zukunft.

Nachhaltige Mobilität läuft in Zukunft maßgeblich über die Schiene – eine Vision, die Knorr-Bremse mit innovativen Transporttechnologien mitgestaltet. Mit dem Elektro-Mechanischen Zugbremssystem (EM-Bremse) arbeitet der Weltmarktführer nun an einer technologischen Revolution: Warum die EM-Bremse ein wegweisender Baustein für den Zug der Zukunft ist – und weshalb die pneumatische Bremse trotzdem noch lange eine zentrale Rolle spielen wird, darüber sprechen Matthäus Englbrecht, Vice President Global Brake Systems, und Josef Baier, Director Brake Domain Systems bei Knorr-Bremse im Interview.

Steigen wir mit einem Blick in die Historie ein: Nachdem zu Beginn des Eisenbahnverkehrs menschliche „Bremser“ Zugwagen manuell bremsten, setzte sich Ende des 19. Jahrhunderts weltweit die sogenannte pneumatische Bremse durch. Diese wird über ein komplexes System durch Druckluft gesteuert, die die Bremsbeläge auf die Bremsscheiben presst. Stetig weiterentwickelt bildet sie heute den Standard. Kann man sagen, dass mit der Elektro-Mechanischen Bremse das nächste große Entwicklungskapitel in puncto Zugbremssystem ansteht?

Matthäus Englbrecht: Genau genommen ist der heutige Technologiestand die elektropneumatische Bremse, eine wichtige Weiterentwicklung der reinen Druckluft. Hier wird in modernen Zügen die Pneumatik über hochentwickelte Mechatronik und Software unterstützt. Insgesamt gehen die großen Entwicklungslinien der Transportindustrie in die Richtungen Elektrifizierung, Vernetzung und Eco-Effizienz. Die Pneumatik wegzulassen und rein elektrisch zu arbeiten, ist also in der Tat ein neues Kapitel, ein Paradigmenwechsel.

Das elektropneumatische Bremssystem wurde über Jahrzehnte weiterentwickelt und hat sich in allen Eisenbahnregionen der Welt und Millionen von Zügen bewährt. Warum ist die Zeit für eine neue Technologie gerade jetzt gekommen?

Matthäus Englbrecht: Die Bedürfnisse der Zughersteller und Bahnbetreiber sind wesentliche Treiber für Innovationen. Sie setzen immer stärker auf Fahrzeuge, die noch effizienter, energiesparender und leichter sind. Ebenso ist ihnen die Dynamisierung des Traffic Flows ein Anliegen. Züge sollen enger getaktet werden, um die Strecken besser auslasten zu können und so mehr Menschen von A nach B zu bewegen. Auch die Reduktion der Wartungskosten ist ein Thema. Angesichts dieser Anforderungen ist es sinnvoll, über unseren Beitrag nachzudenken – auch mit neuen Technologien für die Bremse, eines der komplexesten Systeme am Zug.

Porträt von Matthäus Englbrecht, Vice President Global Brake Systems bei Knorr-Bremse Systeme für SchienenfahrzeugePorträt von Matthäus Englbrecht, Vice President Global Brake Systems bei Knorr-Bremse Systeme für Schienenfahrzeuge
Matthäus Englbrecht, Vice President Global Brake Systems

Josef Baier: Die elektropneumatische Bremse ist heute ein in hohem Maße ausgereiftes, hochzuverlässiges System. Einige der genannten Kriterien kann man jedoch nur durch einen Technologiesprung erreichen. Begünstigend kommt hinzu, dass es heute unter anderem Elektromotoren gibt, die den Betriebsbedingungen wie etwa Erschütterungen standhalten und die man in den Bremszangen einsetzen kann.

Ganz direkt gefragt: Wird die EM-Bremse die pneumatische Bremse ablösen?

Matthäus Englbrecht: Nein. Die elektropneumatische Bremse wird weiterhin parallel zum EM-Bremssystem existieren. Das System wird noch über sehr lange Zeit das Rückgrat der in Zügen eingesetzten Bremstechnologien bilden – und für uns weiterhin ein hochrelevanter Markt sein. Die EM-Bremse ist eine weitere hochentwickelte Technologie, die mit zahlreichen neuen Eigenschaften – Elektrifizierung, Konnektivität – eine Alternative zur Pneumatik bietet. Wir gehen davon aus, dass sie zunächst in bestimmten Anwendungsfeldern eingesetzt werden wird, um zur Bewältigung der Herausforderungen des Bahnsektors beizutragen. Ihr Reifegrad wird in den nächsten Jahrzehnten erheblich zunehmen.

Porträt von Josef Baier, Director Brake Domain Systems bei Knorr-Bremse Systeme für SchienefahrzeugePorträt von Josef Baier, Director Brake Domain Systems bei Knorr-Bremse Systeme für Schienefahrzeuge
Josef Baier, Director Brake Domain Systems

Sobald die EM-Bremse marktreif ist: In welchen Bereichen wird man sie zunächst sehen?

Matthäus Englbrecht: Wir glauben, dass die EM-Bremse neben Straßenbahnen zuerst im Vollbahnbereich eingesetzt wird, speziell in Metros sowie Regional- und Hochgeschwindigkeitszügen. Die Architektur dieser Fahrzeuge bietet schon heute fast die Voraussetzungen für die EM-Bremse. Anders als in frei kuppelbaren Fahrzeugen wie Lokomotiven, Reisezugwagen oder Güterzügen ist hier die Energieversorgung durchgängig elektrisch. Und elektrische Signalübertragung braucht man für die EM-Bremse, bei der alles, was heute mit Ventiltechnik und Verrohrungen geschieht, durch elektromechanische Technik ersetzt wird. Das Bremssignal wird per „Brake-by-Wire“ gegeben – also elektrisch via Kabel – anstatt durch Druckluft oder Hydrauliköl.

Das Bild zeigt ein Porträt von Matthäus Englbrecht, einen gezeichneten angeschnittenen Zug und ein Zitat.Das Bild zeigt ein Porträt von Matthäus Englbrecht, einen gezeichneten angeschnittenen Zug und ein Zitat.

Lassen Sie uns über die unmittelbaren Vorteile der EM-Bremse sprechen. Was haben Zugbetreiber und Verkehrsunternehmen davon, wenn sie in die EM-Bremse investieren?

Josef Baier: Durch die Ausstattung mit Sensorik und ihre Vernetzung mit weiteren Zugsystemen und der Cloud wird die EM-Bremse eine schnellere Überprüfung ihrer Komponenten ermöglichen, wodurch zum Beispiel Wartungszyklen optimiert werden können. Predictive Maintenance kann Betreibern Zeit und Geld sparen. Ein weiterer Vorteil sind mögliche Bremswegverkürzungen, da die Übertragung der Bremskraft bei der EM-Bremse noch schneller und noch genauer regelbar ist. Deshalb kann mit ihr bei schwierigen Schienenverhältnissen ein Gleiten der Räder auf der Schiene noch besser verhindert werden als dies heute bei rein pneumatischen Gleitschutzsystemen der Fall ist. Zudem hat die EM-Bremse einen höheren Wirkungsgrad und damit eine bessere Energieeffizienz als die Pneumatik, bei der die Luft im Kompressor verdichtet und als Medium zur Signalübertragung dient. Ein Teil der eingesetzten Energie wird in Wärme umgewandelt und geht verloren. Bei der EM-Bremse kommt nahezu das an, was man an Energie einsetzt.

Und wie sieht es in puncto Gewichtsreduktion aus?

Josef Baier: Die liegt je nach Fahrzeugkonfiguration bei bis zu 15 Prozent allein beim Bremssystem. Die Verrohrung der Pneumatik, die durch die EM-Bremse wegfällt, ist hier noch nicht mit eingerechnet. Wenn weniger Gewicht transportiert werden muss, lässt sich Antriebsenergie der Züge sparen.

Die EM-Bremse ist im Vergleich sehr platzsparend, da unter anderem Druckluftleitungen und -behälter wegfallen. Damit ist Platz für andere Zugkomponenten wie Klimaanlagen und Elektronik. Aber es gibt heute schon ein System, das ebenso kompakt ist: die elektrohydraulische Bremse. Sie kommt in Straßenbahnen zum Einsatz. Warum also die EM-Bremse?

Josef Baier: Die Elektrohydraulik verwendet als Medium zur Kraftübertragung Öl. Die Druckluft bei der Pneumatik ist als Medium unproblematisch. Öl mitunter schon. Beispielsweise ist es aufwändig, in den Werkstätten mit Öl umzugehen. Die EM-Bremse von Knorr-Bremse kommt ganz ohne zusätzliches Öl als Medium aus.

Das Bild zeigt den Schriftzug "Bis zu 15 %".Das Bild zeigt den Schriftzug "Bis zu 15 %".
Bis zu 15 % Gewichtsreduktion: So lässt sich Energie sparen
Ein gescribbelter Zug, in dem Fotos der Komponenten des Elektro-Mechanischen Bremssystems eingearbeitet sind.
Grafik, in der die Funktionsweise des Elektro-Mechanischen Bremssytems mit der des Elektro-Pneumatischen Bremssystems verglichen wird.
Grafische Darstellung der Bremsperformance der Elektro-Mechanischen Bremse im Vergleich zur Elektro-Pneumatischen Bremse.

Wirkt sich das alles auch auf die „Total Cost of Ownership“ aus, also die Kosten, die entstehen, wenn man das System anschafft und über lange Zeit betreibt?

Matthäus Englbrecht: Ja. Allein, weil das System aus deutlich weniger Einzelkomponenten besteht, sinken neben der Anfälligkeit auch die Aufwände beim Einbau in das Fahrzeug und der Instandhaltung über die Jahrzehnte der Nutzung.

Und was ist mit den Zugreisenden? Werden sie positive Auswirkungen durch den Einsatz der EM-Bremse spüren?

Matthäus Englbrecht: Im Idealfall merken Reisende keinen Unterschied. Denn neben der Entwicklung der EM-Bremse treiben wir auch aufseiten der elektropneumatischen Bremse Systeminnovationen wie die Reproducible Braking Distance voran, die im intelligenten Zusammenspiel mit der Infrastruktur die Taktung von Zügen steigern, mehr Kapazität schaffen und die Pünktlichkeit für Passagiere erhöhen wird. Die EM-Bremse ist parallel dazu eine weitere wesentliche Bremstechnologie mit wichtigen Vorteilen, gemacht für eine Breite an Anwendungen.

Das EU-Innovationsprogramm „Europe’s Rail Joint Undertaking“, in dem die 25 wichtigsten Akteure der europäischen Bahnindustrie Technologien für die Schiene der Zukunft vorantreiben, bezeichnet den sogenannten „Airless Train“, also den Zug ohne Pneumatik, als „gesünder, sicherer und attraktiver“. Warum?

Josef Baier: Auch das elektropneumatische Bremssystem bietet überragende Sicherheit, der die EM-Bremse in nichts nachstehen wird. Zudem wird die Elektropneumatik noch lange, über Jahrzehnte im Einsatz sein. Aber die genannten Gründe wie geringeres Gewicht, Energie- und Platzersparnis, die Konnektivität, die smarte Instandhaltung ermöglicht, und die Möglichkeiten zur Optimierung des Traffic Flows sprechen für neue Technologien als Teil zukünftiger Zugkonzepte. Ganz wird die Pneumatik aber auch in Zukunft nicht aus dem Zug verschwinden.

Das Bild zeigt ein Porträt von Josef Baier, einen gezeichneten angeschnittenen Zug und ein Zitat.Das Bild zeigt ein Porträt von Josef Baier, einen gezeichneten angeschnittenen Zug und ein Zitat.

Es gibt also noch mehr Systeme im Zug, die Druckluft brauchen?

Josef Baier: Genau, beispielsweise die Federung oder die Steuerung des Pantographen, des Stromabnehmers. Die Bremse ist sicherlich das komplexeste pneumatische System, aber sie ist nicht mal der Hauptverbraucher. Und auch wenn die EM-Bremse ein zentraler Baustein des „Airless Train“ als Vision des Bahnsektors ist, könnten in Zukunft für spezielle Anwendungen immer noch hocheffiziente, kleine Kompressoren lokal Druckluft erzeugen. Etwa bei der Vakuumtechnik der Sanitärsysteme, die funktionieren ja auch in Flugzeugen so. In Summe gehen wir mit der EM-Bremse einen wichtigen Schritt voraus, um mit Blick auf den „Airless Train“ auch Innovationen bei anderen Luftverbrauchern die Türen zu öffnen.

Welche Schritte müssen noch gegangen werden, damit die EM-Bremse serienreif ist?

Josef Baier: Der nächste große Schritt ist die umfangreiche Prüfung aller Funktionen des EM-Bremssystems auf Herz und Nieren an unserem großen, weltweit einzigartigen ATLAS-Prüfstand in München. Danach, voraussichtlich im ersten Quartal 2025, wird das System in einen mehrmonatigen Fahrversuch im freien Zugbetrieb gehen. Das wird im Rahmen des schon genannten ERJU-Programms geschehen. Erste Versuchsfahrten mit der EM-Bremse haben wir schon 2021 gemacht und wertvolle Betriebsdaten gesammelt. Bis zur Marktreife folgen zudem komplexe Zulassungsverfahren.

Und welche sind die größten Herausforderungen, die auf dem Weg zur Marktreife noch zu bewältigen sind?

Matthäus Englbrecht: Ganz klar: Das EM-Bremssystem als Ganzes so gut zu machen, dass es sich mit der bewährten und hochoptimierten Elektropneumatik messen kann. Und das wirtschaftlich und mit mindestens der gleichen Sicherheit und Zuverlässigkeit. Um das zu erreichen, gehen wir einen klaren Weg.

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