
Truck-Vorstand Bernd Spies erläutert die wichtigsten Hintergründe zum Auftritt von Knorr-Bremse auf der Nutzfahrzeug-Leitmesse IAA Transportation vom 17. bis 22. September 2024 in Hannover.
Herr Spies, was hat sich aus Ihrer Sicht mit Blick auf die wichtigsten Industrietrends seit der IAA Transportation 2022 verändert?
Vor zwei Jahren hat sich bereits abgezeichnet, dass das Automatisierte Fahren etwas in den Hintergrund rückt. Dieser Trend hat sich weiter verfestigt, und so sehen wir aktuell einen stärkeren Fokus der Budgets auf den Themen E-Mobilität und Zero Emission. Das gilt nicht nur für Europa infolge strengerer Vorschriften, sondern auch für Nordamerika und Asien, vor allem für China unter dem Label „New Energy Vehicle“. Zudem rücken digitale Service-Leistungen immer mehr in den Blickpunkt.
Wir haben auch unseren Messeauftritt weiter digitalisiert. In Hannover zeigen wir deutlich weniger Hardware-Exponate als früher und bieten dafür mehr interaktive Erlebnisse – zu unseren Produkten und Angeboten für Nutzfahrzeuge, Busse und Trailer und unserem Nachmarktportfolio.
Welche Rolle spielt automatisiertes Fahren heute für Knorr-Bremse?
Wir arbeiten weiter intensiv an Redundanzkonzepten und Systemen für die Level-4-Architektur. Vor einigen Jahren waren wir noch der Meinung, wir könnten ein vollumfängliches automatisiertes Fahrsystem anbieten. Dann haben wir uns auf unsere Kernkompetenz fokussiert: Sicherheit. Sicherheit durch Redundanzsysteme für Bremse, Lenkung und Energieversorgung. Die Skalierbarkeit der Produkte zeigt sich durch verschiedene Konzepte mit dem Ziel, den Lkw auch im Falle fehlerhafter sicherheitsrelevanter Funktionen je nach Anwendung sicher zum Stehen zu bringen. Die Anwendungsfälle reichen dabei von der Ausführung eines Minimum Risk Maneuvers über die Weiterfahrt mit reduzierter Systemfunktionalität bis hin zur Erfüllung der Transportaufgabe mit annähernd gleicher Systemperformanz. Das brauchen unsere Kunden, und hier haben wir unschlagbare Vorteile durch unsere Systemkompetenz und Erfahrung. Um dies zu demonstrieren, sind wir auch mit Partnern aus Fahrzeugindustrie, Wissenschaft und Verwaltung am Förderprojekt Atlas-L4 beteiligt, das einen autonomen Lkw zum Ziel hat.
Welche Innovationen zeigt Knorr-Bremse zum Thema E-Mobilität und Zero Emission?
Wir haben bei Knorr-Bremse eine Innovationseinheit, die sich folgender Aufgabe widmet: Weiterentwicklung auf Feldern, wo wir Geschäft dazugewinnen und uns weiter etablieren können. Wir haben uns in Organisation und Denken auf emissionsfreie Nutzfahrzeuglösungen ausgerichtet. Zero Emission im Straßenverkehr ist auch unser Ziel. Momentan setzen wir im Rahmen unserer Roadmap auf unsere modulare Scheibenbremsenfamilie SYNACT, die vollelektrische Lenkung als besonders innovatives Entwicklungsprojekt, aber auch auf neue Technologien für die Luftaufbereitung.
Wir haben beispielsweise auch eine ölfreie Kompressortechnologie im Blick, um Energieeffizienz und Nachhaltigkeit zu steigern. Für die Energieversorgung sicherheitsrelevanter Systeme präsentieren wir das redundante Power Management System ebenso wie ein noch notwendiges Bremswiderstandsystem, um die Verfügbarkeit des Trucks in allen Situationen sicherzustellen.

Wir haben uns in Organisation und Denken auf emissionsfreie Nutzfahrzeuglösungen ausgerichtet. Zero Emission im Straßenverkehr ist auch unser Ziel.
Bernd Spies – Mitglied des Vorstand und verantwortlich für die Division Systeme für Nutzfahrzeuge
Wie weit ist die elektromechanische Bremse (EMBS) für Nutzfahrzeuge gediehen?
Wir verfolgen diesen Gedanken seit vielen Jahren und treiben die Entwicklung der elektromechanischen Bremse weiter voran. Ich erhoffe mir Input während und nach der IAA zu diesem für uns sehr wichtigen Thema. Eine elektromechanische Bremse kann die traditionelle Sicherheitsarchitektur durch eine neue Technologie mit der Möglichkeit des „Full-by-Wire-Braking“ ersetzen. Das EMBS besteht dabei aus redundanter elektrischer Energieversorgung, redundanter Bremssteuerung und elektromechanischer Bremsaktuatorik, einschließlich einer integrierten Feststellbremsfunktion. Das ist eine sehr fordernde Entwicklung, die all unsere Fähigkeiten kombiniert, von der technischen Exzellenz bis zur vollständigen funktionalen Sicherheit. Für diese neue Technologie sind wir optimal aufgestellt und haben den vollen Fokus auf der Truck-Anwendung.
Wie unterscheiden sich die Trends in den verschiedenen Regionen?
Sie sind mit ihren technologischen Lösungen zeitlich etwas versetzt. Ein Beispiel hierfür ist das EBS-System: In Europa ist die Verbreitung bei nahezu hundert Prozent; in Nordamerika beginnt dieser Trend gerade erst. Wir bringen in diesem Jahr als erster Hersteller ein EBS-System in den USA in Großserie. Bei der Scheibenbremse, die sich seit einigen Jahren in Nordamerika verbreitet, haben wir den Trend durch frühe Investitionen und der Fertigung vor Ort mitgeprägt. Das werden wir auch in China tun, wo wir momentan einen großen Marktanteil bei der Lieferung von Scheibenbremsen haben. Wir erwarten, dass mit zunehmendem Fokus auf Verkehrssicherheit die Scheibenbremse auch in China vor ihrem Durchbruch steht.
Wie sprechen Sie die Kunden an, um sich vom Wettbewerb abzugrenzen?
Wir sind lange in diesem Geschäft, haben eine sehr breite Erfahrungsbasis im Entwickeln komplexer und sicherheitsrelevanter Systeme und kennen die Marktanforderungen. Wir haben in jedem derzeit relevanten Markt bis hin zu Südamerika ausreichende Entwicklungskapazitäten und können auch die Fähigkeit unserer globalen Netzwerke nutzen.
Mit unserem Know-how und unserer in den Markt eingeführten Bremssteuerung Global Scalable Brake Control (GSBC) sind wir in der Lage, jeden Trend in jeder Region abzudecken und modular umzusetzen. Darauf setzen viele unserer internationalen Kunden schon heute, mit denen wir ihre Plattformen international bedienen.

Sind Sie mit dem Kundenfeedback im Vorfeld der IAA Transportation zufrieden?
Wir bekommen nicht nur zu den Produkten und Innovationen, die wir anbieten, ein positives Feedback, sondern auch zu unserem Targetmodel. Es beschreibt, wo wir aktiv sind und wo nicht. Viele Kunden, denen wir das vorgestellt haben, schätzen sehr, dass wir uns fokussiert haben und wissen, dass sie bei Knorr-Bremse auf volle Expertise setzen können, sei es bei den Redundanzsystemen, der vollelektrischen Lenkung, den neuen Bremssystemen oder unserer State-of-the-Art Kompressortechnologie. Ihr Feedback ist für uns essenziell. Nur so können wir erkennen, ob wir auf dem richtigen Kurs sind. Ich möchte, dass wir viele Dinge ausprobieren, dabei aber möglichst früh erkennen, ob diese Ideen zum Ziel führen.
Warum folgt der Messeauftritt in diesem Jahr einem neuen Konzept?
Für diese IAA Transportation haben wir ein ganz neues Standkonzept entwickelt, von dem ich wirklich begeistert bin. Wir setzen auf den Einsatz von hochwertigen Containern, die anschließend weiterverwendet werden können, und halten so den Materialeinsatz gering. Die Exponate und die digitalen Inhalte werden wir zudem für eine nachgelagerte Roadshow nutzen. Wir wollen uns mit diesem Konzept klar absetzen und unsere Kunden von der Idee hinter dem Standkonzept begeistern. Es bietet den Rahmen für einen sehr innovativen, hochmodernen technologischen Auftritt, der unsere neuen Produktideen und Serviceleistungen vorstellt, bei gleichzeitig gelebter Nachhaltigkeit.



Warum planen Sie eine aufwendige Roadshow, die nach der IAA Transportation startet?
Die IAA ist für eine Woche angesetzt, aber die Gespräche mit unseren Kunden sind ganzjährig. Mit der Roadshow bringen wir die Messe direkt zu unseren Kunden, um anhand der digitalen Präsentationen und Exponate noch einmal detaillierter diskutieren zu können. Denn auf der Messe ist die Zeit für Gespräche oft sehr limitiert. Die Roadshow bietet daher die perfekte Gelegenheit, bei den Kunden vor Ort im Anschluss nochmals in Ruhe intensive Gespräche zu führen, auf die wir uns schon sehr freuen.
Haben Sie neben den Herstellern auch die Fahrer im Blick?
Das ist das Schöne an unserem Produktportfolio: Wir haben viele Systeme im Angebot, die sich beim Fahrer positiv bemerkbar machen. Fahrerassistenzsysteme wie der Spurhalteassistent, der Notbremsassistent, das Spurhaltewarnsystem oder das Blind Spot Information System (BSIS) machen die Arbeit im Fahrerhaus sicherer und angenehmer. Auch die vollelektrische Lenkung bietet dem Fahrer ein weicheres, angenehmeres Lenkverhalten.
Ebenso bietet unser digitales Angebot an Serviceleistungen für die Organisation einer schnellen Reparatur viele Vorteile – nicht nur für den Flottenbetreiber, sondern auch für die Fahrer. Aber letztlich wollen wir durch unsere Technologie vermeiden, dass es überhaupt zu solchen Fällen kommt. Wir gehen verstärkt in die Entwicklung vorausschauender Wartung und treiben auch das Angebot an Ferndiagnose gemeinsam mit Cojali voran, um Fahrer und Betreiber vor einer drohenden Panne zu warnen.
Letzte Frage: Welche Erwartungen haben Sie an die Politik auf dem Weg hin zur Vision Zero Emission?
In diesem Rahmen ist es wichtig, dass Industrie und Gesetzgeber nicht entkoppelt laufen. Zero Emission kann über mehrere Wege erreicht werden: durch elektrische Antriebe mit Batterien oder mit Brennstoffzellen, oder auch durch einen Verbrennungsmotor, der mit alternativen Kraftstoffen funktioniert. Alle Konzepte verlangen erhebliche Eingriffe in die Infrastruktur, die Betankungssysteme, die Art, wie wir Trucks auf Raststätten versorgen, damit genügend Zeit für Nachfüllen, Nachtanken oder Nachladen bleibt.
Hier wünsche ich mir einen wesentlich engeren Schulterschluss zwischen Gesetzgebung und Industrie, um schneller konkrete Anforderungen festzulegen mit Blick auf die Technologien von morgen. So können wir Produkte über ihren Lebenszyklus planbarer machen und eine stärkere Fokussierung erreichen. Ich wünsche mir viel Offenheit in dieser Diskussion.