Die E-Mobilität hat das Automatisierte Fahren etwas aus dem öffentlichen Blickfeld gedrängt. Doch lässt sich das Hochautomatisierte Fahren (Highly Automated Driving, HAD) für Lkw in der zweiten Reihe eventuell sogar effektiver weiterentwickeln? Dr. Christoph Huber von Knorr-Bremse berichtet, wie sich Knorr-Bremse u. a. mit dem redundanten Bremssystem erfolgreich als spezialisierter Industrieführer positioniert hat. Jetzt könnte der Hub-to-Hub-Transport mit attraktiven TCO den ersehnten Entwicklungsschritt zur HAD-Serienreife bringen. Biegt der selbstfahrende Lkw möglicherweise vor dem autonomen Pkw auf die Autobahn ab?
Ein echtes Rennen gab es nicht, dennoch hatte die E-Mobilität das Hochautomatisierte Fahren im Nutzfahrzeugbereich glatt überholt – beim Wettstreit um Entwicklungsbudgets. Den Grund für die Priorisierung beschreibt Dr. Christoph Huber, Bereichsleiter Advanced Driver Assistance Systems bei Knorr-Bremse: „Die E-Mobilität ist ein überwiegend gesellschaftlich getriebener Trend und steht deshalb im Fokus des öffentlichen Diskurses, der Gesetzgebung und der Transportindustrie“. Dr. Huber schränkt jedoch ein: „Ein echter Business Case durch sinkende Total Cost of Ownership (TCO) wird sich jedoch langfristig einstellen. Dagegen vermittelt das Hochautomatisierte Fahren einen direkten wirtschaftlichen Nutzen – die kräftigen Investitionen in die Technologie werden sich schneller auszahlen.“ Dr. Huber präzisiert: „Der Flottenbetreiber entscheidet selbst, wie er das Automatisierte Fahren nutzt, um Kosten zu sparen und seine Fahrer zu unterstützen. Realisiert wird dies durch eine niedrigere TCO, höhere Verfügbarkeit, höhere Transportsicherheit und einen Lösungsansatz zum großen Problem des Fahrermangels.“ Speziell die sinkenden Gesamtkosten sind eine Motivation zur Fortentwicklung der HAD-Technologie (siehe Grafik 1). Die ist momentan noch auf den Verbrenner-Lkw ausgelegt, wird sich aber langfristig auf der Plattform E-Mobilität einfinden. Damit steht das autonome Fahren nicht in Konkurrenz zur E-Mobilität, vielmehr wird es diese technologisch erweitern.
Herausforderungen für das Hochautomatisierte Fahren
Der HAD-Lkw Level 4 soll deutlich vor Ende der Dekade in Serie gehen. Zur Entwicklung, vom derzeitigen Level 2 ausgehend, sind jetzt gut definierte, wirtschaftlich vielversprechende Use Cases gesucht (siehe Grafik 2). Dazu haben Marktplayer aus den Bereichen OE, Tier-1 und Künstlicher Intelligenz (Artificial Intelligence, AI) ihre eigenen Kompetenzen gebündelt und ihre Position im Markt gefunden. Diese Konsolidierung hat auch mit ausgebremsten Geschäftsmodellen zu tun, blickt Dr. Huber kurz zurück: „Zahlreiche Start-ups hatten den Bedarf des Autonomen Fahrens erkannt, um die Fahrerlücke zu schließen und den Flottenbetrieb wirtschaftlicher zu gestalten. Ziel dieser jungen AI-Unternehmen war es, in einen Lkw die zugelieferte Aktuatorik zu integrieren und einen fahrbereiten Truck bereitzustellen. Das ist nicht passiert. Die Gründe hierfür lagen in der hohen technologischen Komplexität des HAD und im Kostendruck bzw. dem Mangel an wirtschaftlich darstellbaren Anwendungen.“ Die Folge war eine Neuordnung der partnerschaftlichen Entwicklungsprojekte im Markt.
Der Markt ist handlungsfähig aufgestellt, doch einige ungelöste Herausforderungen begleiten die HAD-Entwicklung weiterhin, erklärt Dr. Huber: „Eine Hürde ist die Kommerzialisierung der HAD-Technologie für Lkw bei hoher Variantenvielfalt und gleichzeitig relativ geringen Fahrzeugstückzahlen. Hinzu kommen rechtliche Unsicherheiten durch fehlende standardisierte Validierungs- und Verifikationsphasen sowie ausstehende Gesetzgebungen, z. B. bei Haftungsfragen bei Unfällen. Ein dritter Punkt ist die mangelnde gesellschaftliche Akzeptanz des Autonomen Fahrens. Es fehlt Vertrauen in den virtuellen Fahrer als sicheren Verkehrsteilnehmer.“
Knorr-Bremse hat sich bei HAD positioniert
Knorr-Bremse tritt beim Hochautomatisierten Fahren als spezialisierter Industrieführer in seinen Marktsegmenten auf – und nicht als Gesamtsystemhersteller. Eine gute Ausgangslage, findet Dr. Huber: „Aus dieser Position heraus können wir die Redundanzkonzepte für sicherheitskritische Subsysteme einer Level-4-Architektur am besten vorantreiben. Unser Fokus liegt ganz klar auf der Aktuatorik, dazu zählen das Bremssystem, die Lenkung und das Power Management System.“ (siehe Grafik 3)
Redundantes Bremssystem im Einsatz
Die Redundanzfunktionen der Subsysteme basieren nicht nur auf der Doppelung von Komponenten. Knorr-Bremse setzt auf eine smarte und kosteneffiziente Architektur, die den primären und sekundären Pfad integriert. So können sich existierende Komponenten intelligent entfalten und mit neuer Software- und Sicherheitsarchitektur ausgestattet werden. Dieser Ansatz ermöglicht den Kunden eine relativ einfache Erweiterung ihrer bestehenden Systeme auf L4-Fähigkeit.
„Mit ihren zwei Rückfallebenen sind unsere redundanten Bremssysteme derart durchdacht entwickelt, dass sie aktuellen und künftigen Kunden- und Marktanforderungen jederzeit gerecht werden“, stellt Dr. Huber fest. „Das verdeutlicht der Umgang mit Fehlermeldungen des Lkw während der Fahrt.“ Beim Ausfall des Bremssystems sieht der Fahrzeughersteller derzeit ein „Minimal Risk Maneuver“ vor. Das bedeutet, der Lkw wird an den Straßenrand gefahren, abgestellt und erwartet Hilfe. Dabei kann das redundante Bremssystem durch seine skalierbare Konzeption schon heute die Verfügbarkeitsanforderungen der "Mission Complete"-Anwendung erfüllen. Hier kann der Lkw beim Ausfall des Bremssystems auf ein zweites, in der Performance äquivalentes Bremssystem zurückgreifen und weiterfahren. Sollte erneut ein Fehler auftreten, lässt sich der Lkw immer noch per „Minimal Risk Maneuver“ sicher abstellen.
Die vorauseilende Entwicklungsarbeit sieht Dr. Huber als Aufgabe eines Technologieführers wie Knorr-Bremse: „Als Systemspezialist haben wir die maximale Performance entwickelt und liefern zu technischen Fragen als Entscheidungshilfe die Erklärung und Lösung mit.“ Das kann sich auszahlen, denn finalisierte Transportfahrten sichern Flottenbetreibern die termingerechte Lieferung unversehrter Ware, wichtig z. B. bei verderblichen Gütern. Zudem lässt sich das Servicenetzwerk schlanker organisieren.
Das redundante Bremssystem von Knorr-Bremse ist für die ersten Markteinführungen hochautomatisierter Lkw bereit. „Hierzu befähigt uns eine Riesenstärke, nämlich die Kenntnis aller Bremssysteme der Kunden und ihrer Anforderungen. Auf dieser generischen Grundbasis aufbauend skalieren wir für Kunden die spezifischen Lösungen“, erklärt Dr. Huber. Er berichtet von positiven Gesprächen und Projekten mit Leadkunden, speziell in Europa und Nordamerika. So wurden seriennahe redundante Musterkomponenten bereits in Fahrzeuge mit Straßenfreigabe verbaut, außerdem ist das redundante Bremssystem im HAD-Entwicklungsprojekt ATLAS-L4 vertreten.
ATLAS-Projekt L4 fährt voran
Das Entwicklungsprojekt ATLAS-L4 verbildlicht den Wandel vom universellen HAD-Anspruch hin zum Use Case. Zwölf spezialisierte Partner sind bei ATLAS an Bord, die Projektleitung liegt beim Fahrzeughersteller MAN Truck & Bus, der schon mehrere Prototypenfahrzeuge aufgebaut hat. Knorr-Bremse ist mit der redundanten Bremssystemarchitektur inklusive Lenkungsredundanz durch Steer-by-brake sowie dem dazugehörigen Sicherheitskonzept dabei. Nach autonomen Fahrten auf dem Münchner Testgelände von MAN geht es zügig voran: Im April 2024 wurde begonnen, HAD auf einer deutschen Autobahn zu erproben. Das notwendige Control Center für die technische Aufsicht wurde installiert und eine projektbegleitende Risikoanalyse für das Fahrzeug erfolgreich durchgeführt. Das Projekt ATLAS-L4 will beweisen, dass der Einsatz von Level-4-automatisierten und damit fahrerlosen Fahrzeugen auf der Autobahn realisierbar ist. Damit wäre ein Grundstein für künftige Serienanwendungen für eine Logistik 4.0 gelegt.
Use Case Hub-to-Hub
Als Use Case auf dem Weg zur HAD-Serienanwendung scheint ein Kandidat besonders geeignet: Die Level-4-Anwendung Hub-to-Hub. Sie verspricht eine wirtschaftliche Perspektive. Ein Praxisbeispiel dafür ist die Lkw-Fahrt ohne Fahrer von einem Distributionshub zu einem anderen (siehe Grafik 4).
Die Hub-to-Hub-Anwendung sucht stets maximal reduzierte Komplexität in Verkehrseinsatz und Technologie. Deshalb werden im ersten Schritt Fahrten in städtischen Regionen gemieden und Langstrecken-Einsätze auf der Autobahn fokussiert. Denn dieses Umfeld muss in geringerem Maße mittels Versuchen und Tests abgesichert werden, da dort weder Gegenverkehr noch ungeschützte Verkehrsteilnehmer wie Fußgänger und Radfahrer zu erwarten sind.
Die Zusammenarbeit in einem Hub-to-Hub-Fall ist dabei in verschiedenen, projektabhängigen Konstellationen zwischen OE, TIER-1-Lieferanten und AI-Unternehmen denkbar. „Letztlich wird jeder Partner jeweils seine Kompetenz ins Fahrzeug einbringen und es wird ein intensiver Austausch über Schnittstellen stattfinden“, ordnet Dr. Huber ein.
Der Blick in die Zukunft
Sollte der erste autonome Serien-Lkw wie avisiert vor Ende der Dekade auf der Autobahn fahren, könnte er dem autonomen-Serien-Pkw eine Trucklänge voraus sein. Oder auch nicht. In Wahrheit geht es weniger um die Erfüllung der ehemals futuristischen Vision des Autos ohne Fahrer – es geht um den sinnhaften und sicheren Einsatz von L4-Fahrzeugen. Bei den Nutzfahrzeugen schreitet die HAD-Entwicklung voran und Knorr-Bremse hat hieran seinen Anteil. Die Serienreife des redundanten Bremssystems rGBSC ist bis Mitte der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts geplant, unabhängig vom erwarteten Ordervolumen. Darüber hinaus verfolgt Knorr-Bremse die Weiterentwicklung der redundanten Lenkung, zeitlich abhängig vom Kundenbedarf, und des redundanten Power Management Systems rPMS.
Ein wichtiger Meilenstein wird die Freigabe der fahrerlosen Lkw-Fahrt (Driver-out Release) sein. Denn sie befähigt die Fahrzeughersteller gemeinsam mit ihren AI-Partnern zu einem deutlich intensivierten Testing des HAD-Lkw. Das bringt das Sicherheitskonzept – auch das redundante Bremssystem – der Serie näher.
Darüber hinaus kündigt Dr. Christoph Huber Spannendes an: „Knorr-Bremse wird bis zur Umsetzung des serienreifen HAD-Truck den Kunden ein Produktportfolio anbieten, das von Level 2 bis 4 marktfähig ist. Mögliche Funktionen während dieser langen Übergangsphase könnte ein Hochleistungsnotbremsassistent oder High-Performance AEBS [Advanced Emergency Braking System] sein. Hierzu sind wir in engen Gesprächen mit ausgewählten Kunden, die das Hochautomatisierte Fahren mit der gleichen Leidenschaft wie wir vorantreiben und auf die Straße bringen wollen!“
Die Hub-to-Hub-Anwendung sucht stets maximal reduzierte Komplexität in Verkehrseinsatz und Technologie. Deshalb werden im ersten Schritt Fahrten in städtischen Regionen gemieden und Langstrecken-Einsätze auf der Autobahn fokussiert. Denn dieses Umfeld muss in geringerem Maße mittels Versuchen und Tests abgesichert werden, da dort weder Gegenverkehr noch ungeschützte Verkehrsteilnehmer wie Fußgänger und Radfahrer zu erwarten sind.
Die Zusammenarbeit in einem Hub-to-Hub-Fall ist dabei in verschiedenen, projektabhängigen Konstellationen zwischen OE, TIER-1-Lieferanten und AI-Unternehmen denkbar. „Letztlich wird jeder Partner jeweils seine Kompetenz ins Fahrzeug einbringen und es wird ein intensiver Austausch über Schnittstellen stattfinden“, ordnet Dr. Huber ein.
Der Blick in die Zukunft
Sollte der erste autonome Serien-Lkw wie avisiert vor Ende der Dekade auf der Autobahn fahren, könnte er dem autonomen-Serien-Pkw eine Trucklänge voraus sein. Oder auch nicht. In Wahrheit geht es weniger um die Erfüllung der ehemals futuristischen Vision des Autos ohne Fahrer – es geht um den sinnhaften und sicheren Einsatz von L4-Fahrzeugen. Bei den Nutzfahrzeugen schreitet die HAD-Entwicklung voran und Knorr-Bremse hat hieran seinen Anteil. Die Serienreife des redundanten Bremssystems rGBSC ist bis Mitte der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts geplant, unabhängig vom erwarteten Ordervolumen. Darüber hinaus verfolgt Knorr-Bremse die Weiterentwicklung der redundanten Lenkung, zeitlich abhängig vom Kundenbedarf, und des redundanten Power Management Systems rPMS.
Ein wichtiger Meilenstein wird die Freigabe der fahrerlosen Lkw-Fahrt (Driver-out Release) sein. Denn sie befähigt die Fahrzeughersteller gemeinsam mit ihren AI-Partnern zu einem deutlich intensivierten Testing des HAD-Lkw. Das bringt das Sicherheitskonzept – auch das redundante Bremssystem – der Serie näher.
Darüber hinaus kündigt Dr. Christoph Huber Spannendes an: „Knorr-Bremse wird bis zur Umsetzung des serienreifen HAD-Truck den Kunden ein Produktportfolio anbieten, das von Level 2 bis 4 marktfähig ist. Mögliche Funktionen während dieser langen Übergangsphase könnte ein Hochleistungsnotbremsassistent oder High-Performance AEBS [Advanced Emergency Braking System] sein. Hierzu sind wir in engen Gesprächen mit ausgewählten Kunden, die das Hochautomatisierte Fahren mit der gleichen Leidenschaft wie wir vorantreiben und auf die Straße bringen wollen!“
Dr. Christoph Huber
Dr. Christoph Huber hat sich in knapp 15 Jahren bei Knorr-Bremse u. a. intensiv der Sensorik für Bremssysteme und als Projekt- und CoC-Leiter dem Automatisierten Fahren von Nutzfahrzeugen gewidmet. Gegenwärtig verantwortet der promovierte Ingenieur Elektrotechnik den Bereich Advanced Driver Assistance Systems von Knorr-Bremse.