Automatisiert fahrender Lkw ohne Fahrer mit Fahrerassistenssystemen von Knorr-Bremse

„Die Nutzfahrzeugindustrie wird sich in den kommenden zehn Jahren so stark verändern wie in den vergangenen hundert Jahren.“

Interview mit Dr. Peter Laier, seit 2016 Mitglied im Vorstand der Knorr-Bremse AG und verantwortlich für die Division Systeme für Nutzfahrzeuge.

Dr. Peter Laier, Mitglied im Vorstand der Knorr-Bremse AG und verantwortlich für die Division Systeme für Nutzfahrzeuge.

Herr Dr. Laier, wie ist der aktuelle Stand beim automatisierten Fahren? Haben sich die großen Hoffnungen der Lkw-Branche erfüllt – oder herrscht nach dem Hype der vergangenen Jahre inzwischen sogar Ernüchterung?

Ganz im Gegenteil. Bei den Nutzfahrzeugen haben insbesondere die Fahrassistenz, aber auch das automatisierte Fahren in den vergangenen Monaten einen weiteren Schub bekommen: Die globale Covid-19-Pandemie hat das Wachstum des Online-Handels stark beschleunigt, wodurch das weltweite Transportaufkommen und somit, auch aufgrund des weltweiten Fahrermangels, die Nachfrage der Logistikflotten nach automatisiertem Fahren zugenommen hat. Darüber hinaus bietet das automatisierte Fahren einen klaren Business Case, basierend auf den Kostenreduktionsmöglichkeiten um rund ein Drittel.

Boomt das automatisierte Fahren rund um den Globus oder nur in ausgewählten Regionen?

Das ist ein globaler Trend, der insbesondere in Nordamerika und China ungebrochen ist. Das soll nicht heißen, dass ein Truck schon übermorgen automatisiert quer durchs Land, zum Beispiel von Los Angeles nach New York, fährt. Automatisiertes Fahren wird voraussichtlich ab Mitte der 2020er Jahre zuerst in Nordamerika und Asien bei Nutzfahrzeugen im sogenannten Hub-to-Hub-Verkehr zur Anwendung kommen, also auf längeren, freigegebenen Strecken, z. B. vom Hafen zum Logistikzentrum oder zwischen zwei Logistikzentren. Hinzu kommt der automatisierte Verkehr in definierten nicht-öffentlichen Bereichen, sogenannten „Confined Areas“, also im Hafen, in einer Mine oder innerhalb eines Logistikhofs.

Wie kommt es, dass Deutschland und Europa etwas nachhängen?

Die Nutzfahrzeughersteller in Europa sind auf dem Gebiet der Emissionsreduktion zurzeit stark gefordert. Sie müssen in Europa den CO2-Ausstoß der Lkw bis 2025 um 15 Prozent und bis 2030 sogar um 30 Prozent gegenüber dem Jahr 2019 senken. Daher steigt der Druck auf die großen Lkw-Hersteller, ihre neuen elektrischen Antriebskonzepte auf die Straße zu bringen. Der damit verbundene, extrem hohe Aufwand reduziert den Fokus auf das automatisierte Fahren derzeit etwas. Was aber nicht heißt, dass sich die europäischen Hersteller und ihre Zulieferer bei diesem Thema nicht mehr engagieren. Ganz gewiss nicht. Wir bei Knorr-Bremse treiben das automatisierte Fahren und die Weiterentwicklung der Fahrerassistenzsysteme weiter voran.

Aber auch auf dem Kontinent tut sich beim automatisierten Fahren schon jetzt mehr als viele denken. Was sind für Sie die wichtigsten Projekte, was läuft gut, wo fehlt noch etwas?

Allein in den ersten Monaten dieses Jahres ist viel passiert. Im oberösterreichischen Gunskirchen wird auf einer 600 Meter langen Versuchsstrecke in den nächsten drei Jahren ein fahrerloser, elektrischer Gütertransporter nicht nur auf einem Werksgelände, sondern auch im öffentlichen Raum getestet. In Schweden hat das Transportministerium den Test mehrerer automatisiert fahrender Lkw auf einer öffentlichen Autobahn freigegeben – hier sitzen zur Kontrolle aber ständig ein Fahrer und ein Ingenieur im Cockpit. Noch dieses Jahr soll im Praxistest „Hamburg TruckPilot“ ein automatisierter Lkw-Prototyp auf einem Containerterminal des Hafens sowie einem 70 Kilometer langen Teilstück der Autobahn A7 fahren. Und bei der Landesgartenschau in Lindau befördert ein selbstfahrendes Shuttle die Besucher. Wir sind also auch in Europa mit einem positiven Momentum unterwegs. Dazu passt, dass die Bundesregierung gerade erst Ende Mai ein neues Gesetz zum automatisierten Fahren beschlossen hat, um diese innovativen Technologien, Funktionen und Services hierzulande noch schneller zu etablieren.

Damit das automatisierte Fahren noch schneller vorankommt: Wird die Zusammenarbeit mit den Herstellern jetzt noch wichtiger? In welchen Bereichen kooperiert Knorr-Bremse besonders stark?

Gerade hochkomplexe technische Innovationen wie das automatisierte Fahren eignen sich hervorragend für enge, partnerschaftliche Zusammenarbeit. Die Hersteller bringen hier ihre Fahrzeugkompetenz ein und wir übernehmen alle Themen rund um die Fahrdynamik – also die Aktuatoren Bremse und Lenkung sowie die Truck Motion Control. Andere Kooperationspartner liefern wiederum Software-Elemente mit Künstlicher Intelligenz oder die notwendige Elektronik Hardware. Aus dieser vielfältigen Zusammenarbeit entstehen Allianzen, die das Thema automatisiertes Fahren sehr engagiert vorantreiben.

Wovon hängt es ab, wie rasch die großen Lkw-Flotten-Betreiber die modernen Assistenzsysteme oder gar automatisiert fahrende Laster einsetzen?

Das wichtigste Entscheidungskriterium für Speditionen sind die Kosten der gesamten Laufzeit eines Lkw, die sogenannte Total Cost of Ownership (TCO). Die Lkw-Betreiber prüfen dabei stets, ob sich die Investition in eine neue Technik für sie rentiert, ob sie die Wirtschaftlichkeit und Effizienz eines Nutzfahrzeugs steigert. Das wäre z. B. der Fall, wenn durch den Einsatz neuer Technologien die Kraftstoff- und/oder Lohnkosten sinken, oder wenn sich teure Standzeiten und Leerfahrten vermeiden lassen. Und genau hier bringt die Automatisierung deutliche Kosteneinsparungen. Bei der Stufe 4 des automatisierten Fahrens könnte der Lkw auf für das automatisierte Fahren freigegebenen Streckenabschnitten, wie zum Beispiel Autobahnen, ohne Fahrer bewegt werden und am Ende der Strecke, also zum Beispiel an der Autobahnabfahrt, wieder von einem Fahrer übernommen werden. Die sich aus diesem Anwendungsbeispiel ergebenden Kosteneinsparungen zeigen die Sinnhaftigkeit der Investition in das automatisierte Fahren. Darüber hinaus reduziert sich bei automatisiert bewegten Lkws die Unfallhäufigkeit. Zudem können automatisiert fahrende Nutzfahrzeuge aufgrund des Wegfalls der vorgeschriebenen Ruhezeiten des Fahrers länger ohne Pause unterwegs sein.

Wie wichtig wird neben dem automatisierten Fahren der zunehmende Einsatz von Fahrerassistenzsystemen?

Auf dem Weg zum automatisierten Fahren spielt die Weiterentwicklung der Fahrerassistenzsysteme mit neuen Funktionen eine zentrale Rolle. Wir sehen hier ein sehr großes Entwicklungspotenzial und sind überzeugt, dass sich Assistenzsysteme weiter durchsetzen werden. Das gilt beispielsweise für den Abbiegeassistenten, der dabei hilft, Unfallschwerpunkte mit Fußgängern und Fahrradfahrern zu entschärfen. Wir begrüßen, dass dieses wichtige Sicherheitssystem für neue Busse und Lkw verpflichtend wird. Mit unserem nachrüstbaren Abbiegeassistenten ProFleet Assist+ können Hersteller und Speditionen auch ihre aktuell im Einsatz befindlichen Nutzfahrzeuge ausrüsten. Aber auch der Markt für weitere Assistenzsysteme wie Spurhalte-Assistent („Lane Keeping“) und Manövrierhilfen wächst. Um hierfür gerüstet zu sein, haben wir bereits vor fünf Jahren unsere Lenkungsstrategie forciert.

Stichwort „redundante Systemarchitektur“. Was ist das und warum ist es so bedeutsam?

Jedes automatisiert bewegte Nutzfahrzeug braucht eine Art technischen Sicherheitspuffer, um auch im Fehlerfall sicher weiterfahren zu können. Das heißt, die Systeme müssen doppelt, also „redundant“, ausgestattet sein, dass sie den Ausfall einer sicherheitsrelevanten Komponente kompensieren können. Die Auslegung dieser redundanten Systemarchitektur ist eine Kompetenz, die wir uns als Knorr-Bremse in den letzten Jahren aufgebaut haben. Wir stehen diesbezüglich im engen Austausch mit vielen Kunden und haben bereits erste Aufträge für Produkte in redundanten Systemen erhalten.

Wie können die modernen Assistenzsysteme den Fahrer in seinem Arbeitsalltag entlasten?

Das ist eine sehr wichtige Thematik. Für mich steht fest: Die Assistenzsysteme, die schrittweise entwickelt und in den Markt gebracht werden, sollen den Fahrer unterstützen und entlasten und somit dazu beitragen, das Nutzfahrzeug sicherer zu bewegen. Was die Lkw-Fahrer heutzutage leisten, verdient höchste Anerkennung. Denn Lkw sind inzwischen hochkomplexe Systeme geworden, die von gut ausgebildeten Fahrern sicher gehandelt werden müssen. Der Beruf des Fahrers wird sich von der Aufgabenstellung her etwas wandeln, aber die Fahrer werden auch zukünftig weiter unverzichtbar sein und ein wesentlicher Bestandteil des Systems bleiben.

Wo kann die Technik den Menschen am Lenkrad unterstützen?

Nehmen wir das Beispiel des Manövrierens auf einem großen Logistikhof. Assistenzsysteme können den Fahrer dabei unterstützen, den Lkw exakt an die Laderampe heranzusteuern und helfen somit die häufig auftretenden Park- und Rangierkollisionen zu vermeiden. Ein anderes Beispiel ist der Highway Pilot, der den Truck auf gewissen Autobahnstrecken automatisiert und sicher fahren lässt, und das Fahrzeug dann an der Ausfahrt wieder an einen Fahrer übergibt. Das bringt auch Änderungen mit Blick auf den zukünftigen Arbeitsplatz der Lkw-Fahrer mit sich.

Wie genau könnte sich das Tätigkeitsfeld eines Lkw-Fahrers verändern?

Die Arbeit am Steuer und das Berufsbild des Fahrers werden sich umfassend wandeln. Noch vor ein paar Jahren fürchteten viele Fahrer, dass ihr Job keine Zukunft mehr habe und durch die Automatisierung überflüssig werde. Das Gegenteil ist der Fall. Das zunehmend automatisierte Fahren entlastet die Menschen und übernimmt beispielsweise lange Autobahnfahrten. Der Fahrer übernimmt dann das Fahrzeug für die komplexeren Fahrten über Land und im städtischen Bereich und kann den Abend anstatt auf dem Rasthof bei der Familie verbringen. Darüber hinaus kann ich mir gut vorstellen, dass sich das Betätigungsfeld des Fahrers zukünftig ausweitet, indem er beispielsweise Dispositionsaufgaben übernimmt.

Wie ist Knorr-Bremse im Bereich Lenkung aufgestellt?

Neben der Bremse ist die Lenkung der zweite wesentliche Aktuator für die Beherrschung der Fahrdynamik. Darauf haben wir uns rechtzeitig eingestellt und uns seit 2016 durch Akquisitionen gezielt Lenkungskompetenz aufgebaut: u. a. durch den Kauf des Nutzfahrzeug-Lenkungsgeschäfts von Hitachi und die Übernahme des US-Anbieters Sheppard. Somit können wir als Systemanbieter für die Fahrdynamik im Nutzfahrzeug sowohl eine wesentliche Rolle bei dem sich verstärkenden Trend hin zu Fahrerassistenzsystemen als auch bei den sich abzeichnenden Kooperationen hinsichtlich des automatisierten Fahrens spielen.

Was bedeuten die ganzen Entwicklungen für Knorr-Bremse und was werden die größten Herausforderungen in den nächsten beiden Jahren?

Wir müssen alle gemeinsam in der Nutzfahrzeugindustrie den steigenden Bedarf absichern. Das ist aktuell angesichts der immer noch grassierenden globalen Pandemie und der daraus resultierenden Knappheit von Rohmaterial und Zulieferteilen wie zum Beispiel insbesondere Halbleitern eine herausfordernde Aufgabe. Darüber hinaus sind wir damit beschäftigt, viele neue Produkte wie beispielsweise unsere neue Generation der Bremssteuerung, der elektronischen Luftaufbereitung oder der Überlagerungslenkung zu entwickeln sowie die Technologien für das automatisierte Fahren zu entwickeln und auf den Markt zu bringen. Das ist eine riesige Herausforderung – nicht nur für uns, sondern für die gesamte Nutzfahrzeugindustrie. Die Nutzfahrzeugindustrie wird sich in den nächsten zehn Jahren so stark verändern wie in den vergangenen hundert Jahren. Diese Transformation müssen wir gemeinsam bewältigen. Ich bin überzeugt, dass wir als führender Systementwickler und Lieferant auch in der Nutzfahrzeugwelt von Morgen eine starke Rolle spielen werden.

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Abbiegeassistenten wie der nachrüstbare Abbiegeassistent ProFleet Assist+ von Knorr-Bremse TruckServices helfen dabei, Unfallschwerpunkte mit Fußgängern und Fahrradfahrern zu entschärfen.
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