Grafik, die einen vernetzten Gueterzug und zwei Sprechblasen versinnbildlicht

Interview: Innovationsschub digitaler Güterzug – letzte Chance für die Schiene?

Dr. Thomas Anton und Michael Gutemann sind zwei der treibenden Kräfte hinter der Entwicklung von automatisierten Systemlösungen für den digitalen Frachtverkehr. Im Interview sprechen sie über die Technologien, die für die Transformation des Schienengüterverkehrs nötig sind – und erklären, wo Knorr-Bremse bei dieser bahnbrechenden technologischen Entwicklung steht.

Der Digitale Güterzug ist ein wichtiger Baustein der EU-Strategie, den Güterverkehr von der Straße auf die Schiene zu bringen. Was ermöglicht er technologisch?

Dr. Anton: Mit dem Digitalen Güterzug ziehen moderne Automatisierungssysteme in den heute manuell betriebenen Güterzug ein. Elektronische Steuerungen mit moderner Sensorik in Kombination mit robuster Aktorik werden manuelle Vorgänge wie Kuppeln oder Entkuppeln sowie zeitaufwendige Prozesse wie die Bremsprobe automatisieren. Cloudgestützte Services werden Papierberge in der Verwaltung ersetzen und den Logistikpartnern vielfältige Informationen zu ihrer Ladung zur Verfügung stellen. Durch konstante Überwachung von Wagen und Zug werden wir etwa mittels zustandsbasierter Wartung eine deutlich höhere Fahrzeugverfügbarkeit ermöglichen.

Gutemann: Die Digitalisierung und Automatisierung hilft, jeden Prozessschritt eines Zugbetreibers – Zugvorbereitung, Fahren, Rangieren und Wartung – effizienter zu machen. Im Vergleich zur Straße brauchen diese Schritte auf der Schiene noch zu viel Zeit, sind teuer und unflexibel.

Wo steht Knorr-Bremse in der Entwicklung?

Dr. Anton: Zunächst hat Knorr-Bremse die Architektur unseres „Digital Freight Train“-Systems definiert. Nun entwickeln wir parallel die einzelnen Bausteine: die Digitale Automatische Kupplung (DAK) „FreightLink“ als zentralen Enabler, das Zugautomatisierungssystem „FreightControl“ als Herzstück des Systems mit der Elektropneumatischen Bremse und die zugehörigen digitalen cloudbasierten Services. Diese Komponenten werden wir kontinuierlich weiter entwickeln, um wie bei Apps auf einem Smartphone, unseren Kunden sukzessive weitere Funktionen und Services zur Verfügung zu stellen.

Porträt von Dr. Thomas Anton, Vice President Brake Control und verantwortlich für das Digital Freight Train ProgrammPorträt von Dr. Thomas Anton, Vice President Brake Control und verantwortlich für das Digital Freight Train Programm
Dr. Thomas Anton ist Vice President Brake Control und verantwortlich für das Digital Freight Train Programm
Grafik mit einem Zitat von Dr. Thomas Anton in einer SprechblaseGrafik mit einem Zitat von Dr. Thomas Anton in einer Sprechblase

Welche Meilensteine haben Sie schon erreicht?

Gutemann: Unsere Geschäftseinheit Kupplungssysteme für Passagier- und Güterzüge gibt es seit 2019. Deshalb sind wir später als andere in die DAK-Entwicklung eingestiegen. Es freut mich deshalb aber umso mehr, dass wir jüngst genau planmäßig unseren ersten Prototypen gefertigt haben. Diesen testen wir nun intensiv intern sowie extern. Mit dem Einbau unserer Kupplungen im Herbst 2022 in den ersten Versuchszug sehen wir uns auf Augenhöhe im Eifern um die beste DAK.

Dr. Anton: Die automatisierte Bremsprobe werden wir mit dem FreightControl System Anfang 2023 erstmals auf einem Zug der Havelländischen Eisenbahn testen. Die Zulassung streben wir dann ein Jahr später an.

Gutemann: Ein weiterer Meilenstein ist der im Juni gebaute Prototyp unserer Elektrokontaktkupplung. Sie ist das Modul an der Kupplung, das die Strom- und Datenleitung zwischen den Wagen herstellt und damit eine ganz wesentliche Komponente der DAK ist. Unser Konzept ist das Einzige im Wettbewerb, welches der Spezifikation entspricht, ohne Eingriffe am bereits vom European DAC Delivery Programme festgelegten Kupplungskopf zu unternehmen. Wir hoffen, dass sie zum künftigen Standard wird.

Warum ist Interoperabilität, also das Funktionieren von Systemen auf den Zügen aller Hersteller und Betreiber, sowohl bei der DAK als auch beim Automatisierungssystem so wichtig?

Dr. Anton: Bahnbetreiber werden auch in Zukunft Güterwagen, die von unterschiedlichen Herstellern ausgerüstet wurden, zu Güterzügen zusammenstellen. Wie beim Bremssystem, wo auch heute schon Regularien die Interoperabilität innerhalb der Züge sicherstellen, brauchen wir diese Standards auch im Digital Freight Train. Einerseits müssen die Kupplungen mechanisch kompatibel sein. Andererseits müssen auch Daten- und Energieübertragung standardisiert sein, damit am Ende Wagen mit unterschiedlichen Automatisierungssystemen alle den Prozess einer automatisierten Bremsprobe durchlaufen können. Dazu müssen alle Systeme im Zug sozusagen „die gleiche Sprache sprechen“. Und das schon sehr bald, denn die Bahnbetreiber haben sich darauf geeinigt, Ende 2025 mit dem Einbau serienreifer und interoperabler Produkte zu beginnen.

Gutemann: Das Timing ist ambitioniert, aber wir als Systementwickler wollen es möglich machen, und das muss auch der gesamte Sektor tun. Ohne Interoperabilitätsstandard wird der digitale Schienengüterverkehr nicht funktionieren.

Was muss politisch passieren, damit die geplante Umrüstung der Güterwagen wie geplant von statten geht und 2030 abgeschlossen ist?

Gutemann: Brancheninitiativen wie das ERJU-Programm sind sehr gut. Hier wird der Rahmen geschaffen und definiert. Aber damit später die Umrüstung insgesamt funktioniert, ist eine Anschubfinanzierung durch die EU nötig. Gerade die hohen Anfangsinvestitionen kann der Sektor allein nicht tragen, da der hohe Nutzen erst zeitversetzt entsteht.

Wo liegen die besonderen Stärken der DFT- und DAK-Lösung von Knorr-Bremse?

Dr. Anton: Durch unsere über 115-jährige Erfahrung bei der Bremse verstehen wir die Anforderungen des Schienengüterverkehrs sehr gut. Nun gilt es, unsere Expertise bei komplexen Steuerungssystemen aus dem Personenverkehr auf den Schienengüterverkehr zu übertragen und so hochverfügbare digitale Lösungen bereitzustellen.

Gutemann: Viele unserer Mitbewerber bei der Entwicklung der DAK setzen einen Fokus rein auf die Hardware. Wir dagegen sind Systemlieferant und verstehen Bedürfnisse von Bahnbetreibern im Detail. Deswegen können wir ein umfassendes und integriertes System aus Hardware und Software für den Güterzug anbieten, bei dem alles zusammenpasst.

Digitalisierung erfordert auch Datenbanken und Analysetools. Wie stellen Sie diese zur Verfügung?

Dr. Anton: Knorr-Bremse hat im Mai 2022 eine umfassende Kooperationsvereinbarung mit dem Schweizer Internet-of-Things-Unternehmen Nexxiot geschlossen und sich an der Firma beteiligt. Nexxiot ist auf die digitale Aufrüstung von Waggons und Containern spezialisiert. Wir werden unsere Systemtechnologien mit den Sensoren und der skalierbaren, cloudbasierten Plattform von Nexxiot verknüpfen. Und darauf setzen wir die digitalen Services für unseren digitalen Güterzug auf.

Grafik mit einem Zitat von Michael Gutemann in einer SprechblaseGrafik mit einem Zitat von Michael Gutemann in einer Sprechblase
Porträt von Michael Gutemann, Director Sales & Business Development Coupling Systems sowie Projektleiter der Knorr-Bremse DAKPorträt von Michael Gutemann, Director Sales & Business Development Coupling Systems sowie Projektleiter der Knorr-Bremse DAK
Michael Gutemann ist Director Sales & Business Development Coupling Systems sowie Projektleiter der Knorr-Bremse DAK

Ein kritischer Faktor in der Produktion werden die hohen Stückzahlen. Wie wird Knorr-Bremse damit umgehen?

Gutemann: Knorr-Bremse hat eine große Erfahrung mit der Industrialisierung von großen Stückzahlen. Wir sind in der Lage, die Herstellung der DAK bis Mitte des Jahrzehnts vorzubereiten und dann hochzufahren. Dazu nutzen wir auch Synergieeffekte innerhalb des Konzerns. Wir tauschen uns z.B. intensiv mit unserer Commercial Vehicle Division aus, welche sich bei der hochautomatisierten Serienproduktion bestens auskennt.

Wie funktioniert eigentlich ein R&D-Prozess für eine derart komplexe Innovation wie die DAK?

Gutemann: Eine Herausforderung ist, dass wir schon aktiv entwickeln, obwohl teilweise noch nicht alle Spezifikationen feststehen.

Dr. Anton: Unser Entwicklungsprozess selbst ist dabei zu großen Teilen normativ vorgegeben und folgt dabei dem klassischen V-Modell mit Anforderungsklärung, Spezifikation, Entwicklung und Validierung. Anders wären die Entwicklungen nicht zulassungsfähig. Dieses Vorgehen kombinieren wir in den einzelnen Phasen mit agilen Methoden, um schneller ans Ziel zu gelangen. Darüber hinaus hilft uns z.B. Rapid Prototyping, um schnell die Machbarkeit von Lösungsalternativen zu beurteilen.

Denken Sie auch an alternative Geschäftsmodelle, um den Bahnbetreibern die Technologie trotz hoher Kosten schmackhaft zu machen?

Gutemann: Bei der DAK denken wir unter anderem an ein Mietmodell mit monatlicher Gebühr.

Dr. Anton: Bei FreightControl wäre zum Beispiel ein Pay-per-use-Modell für Funktionen wie Bremsprobe oder Zugtaufe denkbar. Damit könnten die Investitionen der Wagenhalter im Betrieb in Teilen refinanziert werden.

Wieso sind Digitalisierung und Automatisierung bisher am Güterzug vorbeigegangen?

Gutemann: In den vergangenen Jahrzehnten sind zwei Anläufe für die Einführung einer automatischen Kupplung gescheitert. Die nationalen Interessen aller in Europa Beteiligten unter einen Hut zu bringen, war zu komplex.

Dr. Anton: Durch den Green Deal gibt es heute einen starken politischen Willen auf EU-Ebene die Bahn als grünen Verkehrsträger zukünftig viel stärker zu nutzen. Das ist eine einmalige Chance für den Schienengüterverkehr – und vermutlich auch die letzte. Die müssen wir gemeinsam als Sektor ergreifen.

Info

Welche automatisierten Systemlösungen für den Schienengüterverkehr treibt Knorr-Bremse voran? Unsere Infografiken liefern einen Überblick über die verschiedenen Technologien, ihre Funktionsweise und Vorteile im Betrieb.

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