Umfelderkennung mit Weitsicht: Strategische Partnerschaft zwischen Knorr-Bremse und dem israelischen Start-Up RailVision.

Interview mit Elen Katz, Gründer und CEO des israelischen Start-ups RailVision , über zukunftsweisende Lösungen zur Umfelderkennung, Autonomes Fahren als Trendthema in der Eisenbahnbranche und die strategische Partnerschaft mit Knorr-Bremse

Herr Katz, die Lösungen von RailVision können auf Bahnstrecken Hindernisse in bis zu zwei Kilometern Entfernung erkennen – auch bei Nacht und Nebel, Regen und Sturm.

RailVision hat auf dem Markt die mit Abstand modernste Technologie zur Umfelderkennung für Schienenfahrzeuge. Alleinstellungsmerkmal von uns hierbei ist die Fähigkeit, auch Hindernisse in größeren Entfernungen zu erfassen. Unser Konzept basiert auf einer intelligenten Kombination von Video- und Infrarottechnik. Insbesondere der Einsatz von Infrarotkameras ist in diesem Anwendungsbereich etwas Spezielles. Wir arbeiten u. a. an digitalen Landkarten, d. h. am Ende soll unser System die ganze Streckenwelt kennen, jedes Signal, jedes Teil der Infrastruktur, um dann bei der Echtzeit-Umfelderkennung die Abweichungen zu diesen Ständen sofort sichtbar zu machen. Unsere Produkte können so zudem Schäden an Gleisen, Weichen oder Oberleitungen erkennen, noch ehe diese zu Ausfällen führen. Damit können wir zusätzlich beim rechtzeitigen, kontinuierlichen Erhalt der Infrastruktur unterstützen. Unsere einzigartige Hardware in Verbindung mit der hochmodernen Al-Software macht uns zum Marktführer in diesem Bereich. Wir verwenden bildverarbeitende Sensoren, die für unseren Einsatz optimiert wurden und exzellente Resultate erzielen. Unsere Technologie hat ihre Ursprünge im Militärbereich; alle RailVision-Produkte sind aber ausschließlich für zivile Zwecke bestimmt.

RailVision hat auf dem Markt die mit Abstand modernste Technologie zur Umfelderkennung für Schienenfahrzeuge.

Elen Katz – Gründer und CEO des israelischen Start-ups RailVision

Wie kamen Sie auf die Idee, diese Technologie im Bahnverkehr einzusetzen?

Wir wussten, dass es im Eisenbahnsektor weltweit eine erhebliche Zahl von Verspätungen und Unfällen gibt, die durch Hindernisse auf den Strecken entstehen. Als wir uns das näher anschauten, wurde uns klar, dass die menschlichen Möglichkeiten und die technischen Notwendigkeiten hierbei häufig erheblich auseinanderklaffen. Ein junger, gesunder Zugführer kann bei Tageslicht und guter Sicht etwa 200 Meter weit sehen, in der Nacht mit Scheinwerfern vielleicht 80 Meter. Ein Zug braucht jedoch bei höheren Geschwindigkeiten oft mehr als einen halben Kilometer Bremsweg, bis er zum Stehen kommt. Zu dem Zeitpunkt, an dem der Zugführer ein Hindernis selbst erkennt, hat er oftmals keine Chance mehr, den Zug noch rechtzeitig anzuhalten. Diese kleine Rechnung veranschaulicht, dass der Mensch in vielen Fällen „die Achillesferse“ im Eisenbahnsektor ist. Bahngesellschaften verdienen mit ihren Zügen nur Geld, wenn sie fahren. Unser Ursprungsziel war es deshalb, mit unserer Technologie die kostenintensiven Ausfallzeiten im Bahnverkehr zu reduzieren.

Ist das nicht mehr der einzige Ansatz?

Wir haben zudem erkannt, dass der Bahnsektor in vielen Ländern noch ein weiteres erhebliches Problem hat: Es gibt immer weniger Eisenbahner. Zeitungen berichten, dass beispielsweise die Österreichischen Bundesbahnen in den nächsten fünf Jahren 8.000 Stellen besetzen müssen, davon allein 2.000 Lokomotivführer. In der Schweiz werden in den nächsten Jahren 750 Zugführer in den Ruhestand gehen; für deren Nachfolge gibt es so gut wie keine Bewerber. Die junge Generation will oft nicht mehr in dieser Branche arbeiten. Das gilt nicht nur für Lokführer, sondern auch für Arbeiter, die die Schieneninfrastruktur, u. a. das Tausende Kilometer lange Schienennetz instandhalten.

Die Lösungen von RailVision umfassen die Erkennung und Klassifizierung von Objekten und Hindernissen (z. B. Personen, Fahrzeuge, Signale), Fahrwegerkennung (beispielsweise Erkennung der Weichenstellung), Entfernungsmessung und systematische Zustandsüberwachung der Infrastruktur, wie sie für die automatische Zugsteuerung (ATO) benötigt werden.

Umfelderkennung und Autonomes Fahren als wichtige Themen in der Eisenbahnbranche

Kann Technik für die oben genannten Aufgabenstellungen Lösungen schaffen?

Die Eisenbahnbranche steht heute – wie viele andere Bereiche der Transport- und Logistikbranche – vor der Notwendigkeit, über den Einsatz von Elektronik, Computertechnik und Robotik nachzudenken. Automatisiertes Fahren, das im Fachjargon des Schienensektors ATO (automatic train operation) heißt, ist auch in der Schienenindustrie in aller Munde und eines der Fokusthemen auf allen Eisenbahnmessen. Autonomes Fahren wiederum ist nur mit einer professionellen und verlässlichen Umfelderkennung möglich.

Sind Sie allein im Markt?

Nein, aber wir sind mit unserem Technologieansatz, d. h. mit der Kombination aus Video- und Infrarottechnik verknüpft mit Künstlicher Intelligenz, definitiv der Marktführer. Wir sind den Mitbewerbern, darunter auch einigen großen Konzernen, um einige Jahre voraus. Im Fahrzeugsektor wird Radar- und Lasertechnik eingesetzt, um Hindernisse zu erkennen. RailVision operiert mit Elektro-Optik.

Im Fahrzeugsektor wird Radar- und Lasertechnik eingesetzt, um Hindernisse zu erkennen. RailVision operiert mit Elektro-Optik.

Wir verwenden hochauflösende Videokameras, die Gefahrenquellen sehen, und gleichzeitig Infrarotgeräte, die Hindernisse anhand von Temperaturunterschieden „fühlen“ können. Diese Kombination liefert sehr plastische und aussagekräftige Bilder. Radar und Lasertechnologie sind aktive Systeme, das heißt, es müssen Strahlen ausgeschickt werden, die dann von möglichen Hindernissen reflektiert und zurückgesandt werden. Von diesen Systemen wird eine enorme Zahl an Informationen geliefert, die von Computern gefiltert und geklärt werden müssen. Das ist sehr aufwändig. Zudem sorgt der im Schienenverkehr übliche hohe Anteil von Eisen (Schienen, Oberleitungen, Signale, etc.) bei Radarsystemen oftmals für Störungen. Auch mit Lasertechnik kommt man im Schienenbereich schneller an Einsatzgrenzen; man kann zum Beispiel nicht in einen Bahnhof einfahren und den sich dort aufhaltenden Menschen in die Augen strahlen. Kameras und Infrarotgeräte hingegen sind passive Systeme, die in intelligenter Kombination verlässliches Datenmaterial liefern. Und ihre Bilder sind wesentlich schneller auszuwerten als etwa Radarbilder.

Sensortechnik für die Erfordernisse von Zügen

Die meisten Ihrer Mitbewerber kommen ursprünglich aus der Automobilbranche.

Ja, deshalb basiert deren Sensortechnik auf den Anforderungen im Straßenverkehr. Dort geht es um Bremswege von 50 bis 80 Metern – wesentlich kürzer als auf Schienen, wo 200 bis 800 Meter einen mittleren Bereich darstellen. Anders als alle Mitbewerber haben wir uns exklusiv mit den speziellen Erfordernissen von Zügen beschäftigt, was uns heute zu Marktführern in der Branche macht. Derzeit gibt es im Markt einige Hersteller, die Umfelderkennung für Kurzstreckenzüge anbieten, Straßenbahnen zum Beispiel und S-Bahnen. Im Fernverkehrssektor haben wir keine Konkurrenz. Wir können Stand heute mit unseren Kameras wesentlich weitere Strecken- und Umfelderkennungen durchführen als die Mitbewerber.

Wenn die Strecke gerade ist….

Schienenkurven sind an die Geschwindigkeiten der Züge angepasst. Je schneller der Zug fährt, desto größer muss der Radius der Kurve sein, weil der Zug sonst aus der Kurve getragen würde. Damit geht unsere Fernsichtfähigkeit sehr gut Hand in Hand.

In einigen Jahren soll Ihr System Hindernisse in bis zu vier Kilometern Entfernung erkennen können.

Ja, wir möchten diese „Weitsicht“ gerne zügig ausbauen. Insbesondere im Hochgeschwindigkeitsbereich haben wir Bremswege von bis zu vier Kilometern, deshalb arbeiten wir daran mit voller Manpower. Dass wir uns auf einem guten Weg befinden, zeigen Aufträge für Feldtests im Bereich Autonomes Fahren, die wir bereits erhalten haben. Im Rahmen eines Zwei-Jahres-Projekts mit den Schweizer Bundesbahnen testen wir beispielsweise unsere Technologie in zehn Lokomotiven, die in Güter- und Rangierbahnhöfen zum Einsatz kommen.

Knorr-Bremse als finanzstarker Partner mit exzellentem Namen

Wie kam es zur Kooperation zwischen RailVision und Knorr-Bremse?

Wie alle Start-Ups waren wir auf der Suche nach finanzstarken, bestenfalls branchennahen Partnern. Wir machten zwei Versuche, mit Knorr-Bremse ins Gespräch zu kommen, aber zunächst stießen wir auf kein Interesse. Vor etwa einem Jahr fanden wir beim Management doch plötzlich Zugang und bekamen erfreulicherweise die Chance, unsere Entwicklungen vorzuführen. An diesem Tag begann eine „Love Story“, die dazu führte, dass Knorr-Bremse im März 2019 mit dem Ziel einer strategischen Partnerschaft 21,3 % der Anteile von RailVision übernahm. Lustig gesprochen könnte man sagen, wir sind die Sugar Babes, die Know-how und kreativen Spaß an der Technologie zur Verfügung stellen, und Knorr-Bremse ist der Sugar Daddy, der Geld, langjährige Branchenerfahrung, einen Zugang zu Kunden und Systemerfahrung rund um Sicherheitstechnik dazugibt.

Wer hält die anderen 78,7 Prozent?

Die Firmengründer, einige Privatinvestoren sowie ein öffentliches Unternehmen aus Israel, das sich hauptsächlich mit Umfelderkennung im Straßenverkehr beschäftigt. Das ist unser größter Investor. Im Bereich Schienenverkehr ist Knorr-Bremse unser einziger Partner und ein strategischer dazu.

Welchen Nutzen hat diese strategische Partnerschaft für RailVision?

Wir sind die absoluten Vorreiter in unserer Technologie. Auf der anderen Seite kennen wir die Eisenbahnindustrie noch nicht so gut und sind auch produktions- und vertriebstechnisch nicht etabliert. Dieses umfassende Wissen besitzt Knorr-Bremse als erfahrenes Unternehmen mit Vertretungen und Kundenbeziehungen in der ganzen Welt, einem starken finanziellen Background, und neben Know-how in sicherheitsrelevanter Technologie vor allem einem exzellenten Namen.

Israel – kreativer Pool für Start-Ups im Cyber- und Internetbereich

Israel ist bislang nicht als Hotspot der internationalen Eisenbahnindustrie hervorgetreten.

Ich hatte 2004 die Idee, dieses System in meinem Heimatland zu entwickeln. Bis heute gibt es dort keinerlei Eisenbahnindustrie; es gibt kein einziges Unternehmen, das auch nur Schrauben oder Sitze für Bahnen produziert. Darum war es am Anfang unglaublich schwierig, Finanzmittel für dieses Projekt aufzutreiben.

Israel hat einen exzellenten Ruf als kreativer Pool.

Ja, aber unter der riesigen Konkurrenz von Start-Ups aus dem Cyber- und Internetbereich war es immens schwer für uns, Finanziers zu überzeugen, sich unser Projekt überhaupt anzusehen. Schließlich hörte uns diese öffentliche Firma an, die sich in ihrem Bereich mit Hinderniserkennung beschäftigt. Als deren Manager dann den internationalen Eisenbahnmarkt näher in Augenschein nahmen und feststellten, dass es bislang nirgends eine ähnliche Technologie gibt, stellten sie die ersten zwei Millionen Dollar für uns bereit.

Info

Dr. Nicolas Lange, Mitglied der Geschäftsführung Knorr-Bremse Systeme für Schienenfahrzeuge, erläutert, in welcher Form und warum sich Knorr-Bremse aktiv mit dem Thema Digitales Business und der Kooperation mit Start-ups beschäftigt:

  • Die Idee, sich systematisch mit der Zusammenarbeit mit Start-ups und den Themen Digitalisierung und Digitales Business zu beschäftigen, wurde bei Knorr-Bremse 2017 geboren: extra hierfür wurde auf höchster Managementebene ein divisionsübergreifendes „Digital Board“ gegründet, das sich regelmäßig über Entwicklungen, Zielrichtungen und Projekte in diesen Bereichen austauscht.
  • Seither wird mithilfe von Scouts, durch die Zusammenarbeit mit Startup Accelerators wie „TechFounders“, auf Hackathons sowie in eigenen „Pitch Days“ oder auch auf Messen Ausschau gehalten nach frischen und gut passenden Geschäftsideen. Gleichzeitig kommen Startups auch selbst auf Knorr-Bremse zu.
  • Ziel von Knorr-Bremse sind Kooperationen mit Start-ups oder Ideenpools, welche mit hoher Agilität, Elan und kleinen Teams innovative Ideen entwickeln, die wiederum unser Geschäft sinnvoll ergänzen könnten. Aus solchen Kooperationen können Beteiligungen wie diejenige mit RailVision entstehen, müssen aber nicht. Auch die USA und Asien haben wir verstärkt im Blick, um dort ebenfalls zusätzliches Know-how zu suchen, das unsere Kompetenzen, Produkte und Geschäftsideen sinnvoll ergänzen kann. Im Gegenzug bekommen Start-ups mit Knorr-Bremse einen kompetenten Global Player als Partner, mit dem sie ihr Geschäft vervielfältigen können.
  • Die Kooperation mit RailVision war die erste überhaupt, die Knorr-Bremse mit einem Start-up eingegangen ist. Das israelische Unternehmen RailVision hat auf Video- und Infrarottechnik basierende Systeme zur Umfelderkennung für Schienenfahrzeuge entwickelt und bietet damit eine vielversprechende Technologie zur Realisierung automatisierter Fahrfunktionen. Im März 2019 hat Knorr-Bremse eine Vereinbarung zur Investition von 10 Mio. USD unterzeichnet und dafür einen Unternehmensanteil von 21,3 % Prozent übernommen. Darüber hinaus unterstützt Knorr-Bremse RailVision auch inhaltlich, sowohl bei der Vermarktung als auch mit Kundenkontakten und Know-how.
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