Europe’s Rail: mit vereinten Kräften für eine neue Bahn in Europa.

Ob für Passagiere oder für Güter: Nachhaltig, schnell und pünktlich von Tür zu Tür gelangen ist die Vision für das Verkehrsnetz der Zukunft in Europa. Die Bahn soll darin eine entscheidende Rolle spielen. Damit es schnell so weit ist, arbeiten im Rahmen der EU-Initiative „Europe’s Rail Joint Undertaking“ seit Anfang des Jahres 25 Schwergewichte der Branche an neuen Technologiekonzepten. Knorr-Bremse ist mit mehreren Flagship-Projekten dabei. Über Ziele, Erfolge und Zukunftsaufgaben haben wir mit Dr. Nicolas Lange, als Rail-Vorstand für das weltweite Schienenverkehrsgeschäft verantwortlich, und Martin Ertl, Vice President Innovation and Portfolio Management bei Knorr-Bremse Rail Vehicle Systems, gesprochen.

Die Bedürfnisse der Bahn und ihre Herausforderungen

Herr Dr. Lange, Herr Ertl, die Bahn verbindet Europa seit mehr als 150 Jahren und erlebt momentan eine Renaissance. Das stellt das lange politisch vernachlässigte Verkehrssystem allerdings vor große Herausforderungen. Was braucht die Bahn, um fit für die Zukunft zu werden?

Nicolas Lange: Es konkurrieren ja viele Ideen, wie wir mehr Menschen und Waren nachhaltiger und schneller transportieren können. Grundsätzlich ist die Bahn dafür bestens geeignet. Wir haben in Europa allerdings vielerorts weder den Platz noch die Zeit neue Schienen zu bauen oder gar alternative Konzepte wie den Hyperloop umzusetzen. Die wichtigste Aufgabe ist es deshalb, die Transportkapazitäten im vorhandenen Schienennetz voll auszuschöpfen.

Martin Ertl: Um das zu bewerkstelligen, müssen zahlreiche Bestandteile des Gesamtsystems Bahn, also Schienen, Signaltechnik, Züge und Kommunikationssysteme modernisiert und digitalisiert werden. Der Bedarf ist groß. Schließlich ist die Lebensdauer all dieser Komponenten sehr hoch. Das ist im Grunde sehr nachhaltig. Wenn die Politik die Ertüchtigung der Infrastruktur aber nicht zur Priorität macht, verzögert das die Durchsetzung wichtiger Innovationen.

Nicolas Lange: Güterzüge beispielsweise sind technologisch auf dem Niveau von vor 100 Jahren. Um sie in ein digitalisiertes Bahnsystem einzubinden, brauchen wir völlig neue technologische Lösungen. Aber auch die viel weiter entwickelten Personenzüge und die Infrastruktur müssen noch große Entwicklungsschritte machen.

Dr. Nicolas Lange, Mitglied des Vorstands bei Knorr-Bremse und verantwortlich für das weltweite Rail-Geschäft

Martin Ertl: Deswegen muss investiert werden: in Signaltechnik, die kürzere Zugabstände erlaubt, in automatisierten Zugverkehr und in Technologien, die die Infrastruktur konstant überwachen, um Probleme an Strecken beheben zu können, bevor sie zu Baustellen oder Umleitungen führen. Und: Die Bahn muss wettbewerbsfähiger gegenüber dem Warentransport auf der Straße werden. Der hat heute noch einen Kostenvorteil und liefert von Haustür zu Haustür.

EU-Technologieinitiative: Neue Konzepte und Lösungen

Seit Anfang 2023 arbeitet die EU-Technologieinitiative „Europe’s Rail Joint Undertaking“ an genau diesen Lösungen, um ein leistungsfähiges, zuverlässiges Bahnsystem für den europäischen Raum zu ermöglichen. Knorr-Bremse ist Teil dieses Programms, das mit mehr als einer Milliarde Euro finanziert ist. Wer nimmt daran teil, und was genau geschieht dort?

Martin Ertl: An Europe’s Rail beteiligt sind zehn Bahnbetreiber, 13 Fahrzeug- und Subsystemhersteller, darunter Knorr-Bremse, und zwei Forschungszentren, alle aus verschiedenen Ländern der EU.

Nicolas Lange: Das große Ziel ist die Verlagerung von Transportleistung auf die Schiene, und um das zu erreichen, wollen wir mit Europe’s Rail den Transport von Personen und Gütern umweltfreundlicher, verlässlicher und besser verfügbar machen. Die Vision ist, die Bahn in Europa so zu verbessern, dass sie zum Transportmittel Nummer eins wird und Menschen wie Güter, wie etwa heute schon in der Schweiz, quasi von der Straße wegsaugt. Und wir wollen dafür sorgen, dass der Bahnverkehr intelligenter mit anderen Verkehrsträgern zusammenspielt. Denn wer nicht gut zum Bahnhof hin oder von dort wegkommt, ob nun Passagier oder Frachtunternehmen, wird die Bahn nicht nutzen. Ein Vorbild für Interoperabilität ist Singapur. Hier haben wir schon heute einen weit fortgeschrittenen, integrierten Mobilitätsraum – wenn auch in einem recht kleinen Stadtstaat.

Martin Ertl, Vice President Innovation and Portfolio Management bei Knorr-Bremse Rail Vehicle Systems

Europa: Auf dem Weg zum Schienenverkehr der Zukunft

Wenn man das hört, fragt man sich: Warum gibt es so eine Kooperation auf europäischer Ebene erst jetzt?

Martin Ertl: Die Bahn war lange Teil der kritischen Infrastruktur von Staaten, weswegen eine umfassende Zusammenarbeit keine historische Tradition hat. Allerdings gibt es auch Europe’s Rail schon länger. Das Vorläuferprogramm „Shift to Rail“ lief seit 2012, hatte aber eher Forschungscharakter. Europe’s Rail ist umsetzungsorientiert. Das Programm stellt Fördergelder für die in seinem Rahmen entwickelten Konzepte und Lösungen bereit. Die Mittel fließen abhängig vom Entwicklungsfortschritt. Das ist ein Anreiz für Teilnehmer und schärft die Sinne für das wirklich Notwendige.

Nicolas Lange: Dass ausgerechnet jetzt ein ergebnisorientiertes Programm anlief, hat mehrere Gründe. Der „Green Deal“ der EU ist eine der Haupttriebfedern. Damit wollen die EU-Mitgliedstaaten bis 2050 klimaneutral werden, unter anderem durch die Reduktion von Treibhausgasen im Verkehrssektor um 90 Prozent. Der Übergang zu mehr Bahnverkehr spielt dabei eine Schlüsselrolle.

Europe’s Rail: Flagship-Areas

An welchen Lösungen arbeiten die Mitglieder von Europe’s Rail, um ein zukunftsfähiges europäisches Eisenbahnnetz zu schaffen?

Güterzüge sollen mit größeren Stückzahlen für den Testbetrieb ausgestattet werden.

Martin Ertl: Europe’s Rail arbeitet in sechs wesentlichen Fokusgebieten, den sogenannten Flagship-Areas. Sie orientieren sich stark an den größten Bedürfnissen der Bahnbetreiber, wie Deutsche Bahn und Co. Knorr-Bremse ist in fünf Flagship-Areas mit neun konkreten Projekten und Produktentwicklungen beteiligt.

Worum geht es in den fünf Flagship-Areas?

Martin Ertl: In Feld eins geht es darum, wie wir aus unseren Daten einen Mehrwert für die Bahnbetreiber und die Bahnkunden schaffen. In Feld zwei geht es um den autonomen Zugbetrieb. Feld drei betrifft die Wartung und damit Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit. Im vierten Feld suchen wir nach Lösungen dafür, wie die Bahn noch umweltfreundlicher werden kann. Feld fünf dreht sich um das Thema moderner, wettbewerbsfähiger Güterbetrieb, und Feld sechs behandelt alternative Verkehrskonzepte.

DAK: Schlüsseltechnologie beim europäischen Güterverkehr

Wie muss man sich die Arbeit innerhalb dieser Flagship-Areas vorstellen?

Martin Ertl: Die 25 Teilnehmer einigen sich in den Projekten auf notwendige Lösungen für den Bahnverkehr und legen fest, was diese Lösungen für den Schienenverkehr leisten müssen. Wir legen gemeinsam die Grundlagen, die unter anderem Technologiestandards und Spezifikationen beinhalten. Anschließend, oft auch schon parallel dazu, beginnen die einzelnen Teilnehmer wie Knorr-Bremse mit der Entwicklung konkreter Produkte. Gegenüber der EU versprechen wir in einer Finanzierungsvereinbarung, die zugesagten Funktionalitäten in unseren Produkten zu realisieren.

Entwickeln die Mitglieder von Europe’s Rail gemeinsam oder unabhängig voneinander?

Martin Ertl: Das ist von Projekt zu Projekt verschieden. Im Fall der Digitalen Automatischen Kupplung (DAK) entwickeln zwar mehrere Unternehmen eine eigene DAK, die aber allesamt über eine Schnittmenge identischer Funktionen verfügen. Die DAK ist eine Schlüsseltechnologie für die Digitalisierung des europäischen Güterverkehrs, weil sie die Automatisierung des Kupplungsvorgangs ermöglicht und die Züge mit Strom- und Datenleitungen ausstattet. Auch wenn hier verschiedene Hersteller an eigenen Lösungen arbeiten, lautet das Zauberwort immer „Interoperabilität“.

Nicolas Lange: Das heißt, am Ende müssen alle Systeme problemlos miteinander funktionieren – eine Standardschnittstelle haben, wenn man so will. Damit können alle Bahnbetreiber, wie etwa die Österreichische Bundesbahn, die Deutsche Bahn oder die SNCF, immer noch ihre individuellen Anforderungen an die jeweiligen Lösungen realisieren, ihre Züge lassen sich aber trotzdem problemlos aneinander kuppeln.

Gibt es schon Ergebnisse aus der Entwicklung?

Martin Ertl: Bei der DAK kommen wir gut und zügig voran, weil wir hier schon 2019 mit der Entwicklung begonnen haben. Die Prototypen unseres Produkts „Freight Link“ und die der anderen Hersteller sind momentan schon in Teilen Europas in Demonstrationszügen unterwegs. Ab 2025 sollen Güterzüge mit größeren Stückzahlen für den Testbetrieb ausgerüstet werden. Und ich denke, wir können behaupten, dass wir als Knorr-Bremse bei der DAK eine sehr gute Position haben.

Wagen und 17.000 Lokomotiven sollen im Falle der DAK umgerüstet werden.

Knorr-Bremse: Schrittmacher für die Branche

Abgesehen von der DAK, ist Knorr-Bremse auch in anderen Bereichen Schrittmacher für die Branche?

Nicolas Lange: Wir haben den Anspruch bei allem, was wir tun, Schrittmacher zu sein. Das macht uns oft mehr Aufwand als anderen. Aber das Ziel ist es wert: Etwa bei der DAK in einem europäischen Markt von 13 bis 15 Milliarden Euro, der Ausrüstung und langjährigen Service beinhaltet, vorne mitspielen zu können.

Martin Ertl: Unsere Qualitäten zeigen wir auch beim Elektro-Mechanischen Bremssystem, das viele Vorteile in den Bereichen Eco-Effizienz, Gewichtsreduktion, Konnektivität und Wartungsfreundlichkeit bieten wird. Anfang 2024 werden hier weitere Meilensteine erreicht sein. Auch ist das Brancheninteresse an weiteren Zusatzfunktionalitäten für moderne Bremssysteme groß, zum Beispiel an Reproducible Braking Distance. Damit werden Bremswege noch präziser, aus allen Geschwindigkeiten, unter allen Umweltbedingungen. Das bringt Bahnbetreibern noch mehr Stabilität im Betrieb, die sich in höherer Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit auszahlen wird. Zudem bietet es den nächsten Schritt in Richtung Autonomisierung.

Nicolas Lange: Auf übergeordneter Ebene zahlen beide Innovationen auf ein zentrales Ziel ein, nämlich das vorhandene Bahnsystem und die Infrastruktur besser auszulasten. Hochpräzise Bremswege werden es perspektivisch ermöglichen, die Mindestabstände zwischen hintereinanderfahrenden Zügen zu reduzieren. Dadurch passen mehr Züge auf die Strecke.

Kooperation und Wettbewerb auf europäischer Ebene

Bei Europe’s Rail werden offenbar auch Wettbewerber zu Partnern. Warum sind hier Kooperation und Konkurrenz kein Widerspruch?

Martin Ertl: Sicherlich einigt der europäische Gedanke die Akteure zu einem hohen Grad. Manche mögen Konkurrenten bleiben, dennoch vereinen wir in partnerschaftlicher Zusammenarbeit unsere Kräfte zur Erreichung eines wichtigen europäischen Ziels. Trotzdem sind wir in dieser Kooperation immer durch Anti-Trust-Gesetze beschränkt, was auch gut so ist. Wir sprechen beispielsweise nicht über Preise. Durch das hohe Maß an Kooperation, auf das wir uns geeinigt haben, legen wir die Grundlagen für marktreife Produkte mit den gleichen Funktionen – Produkte, die am Ende dem Gesamtsystem Bahn nutzen.

Nicolas Lange: Diese Kooperation ist sicherlich auch zu einem guten Teil von Pragmatismus geprägt. Die Herausforderungen für die europäische Eisenbahnindustrie können nur gesamteuropäisch gelöst werden. Auch das ist ein legitimer Antrieb.

Die Bahn der Zukunft: Die größten Herausforderungen

Welches sind momentan, im Herbst 2023, die größten Herausforderungen der Europe’s Rail Initiative auf dem Weg zum Zugverkehr der Zukunft?

Martin Ertl: Die komplexen Projekte und Stakeholder-Strukturen machen die Entscheidungen manchmal langwierig. Trotzdem wollen und werden wir die versprochenen Leistungen rechtzeitig, in der vereinbarten Qualität und zu den vereinbarten Kosten liefern. Und danach müssen wir die serienreifen Produkte ausrollen. Im Falle der DAK müssen bis zu 500.000 Wagen und 17.000 Loks umgerüstet werden. Einige Hürden haben wir noch in Flagship-Area eins zu nehmen, dem „Federated Data Space“. Dort geht es um die Frage, wie wir Daten aus dem Bahnbetrieb aggregieren, auswerten und nutzbar machen können. Wichtig ist, dass alle Teilnehmer ihr Know-how darüber teilen, was diese Daten bedeuten – aus der Perspektive eines Systemausrüsters wie uns, eines Zugherstellers und eines Bahnbetreibers. Nur so wird aus Daten Wissen, von dem das Gesamtsystem Bahn profitieren kann, etwa indem Störungen durch vorausschauende Wartung vermieden werden.

Nicolas Lange: Vor all diesen Themen steht allerdings stets eines: das liebe Geld. Wenn Sie das Schienennetz nicht sanieren, wenn Sie die DAK nicht finanzieren, wenn Sie die digitale Signaltechnik ETCS (European Train Control System) nicht flächendeckend finanzieren, werden Sie keinen verbesserten Schienenverkehr hinbekommen. Und da ist die Politik, ist die EU gefragt, sich langfristig zu verpflichten. Der politische Wille ist entscheidend.

Wenn Sie am Ende einen Blick in die Glaskugel werfen: Wie sieht der Personen- und Güterverkehr in Europa in zehn Jahren aus?

Nicolas Lange: Meine Vision für den Personenverkehr ist ein integriertes Verkehrssystem. Man kommt reibungslos über automatisierte Fahrzeuge, öffentlichen Nahverkehr oder Car Sharing zum Bahnhof, setzt sich im Zug auf reservierte Plätze, steigt am Endbahnhof aus und kommt dann wieder über ein hoch verfügbares anderes Verkehrsmittel ans Ziel – und das zu attraktiven Preisen. Das sollte in zehn Jahren machbar sein. Aber auch hier: Das muss gewollt und finanziert werden.

Martin Ertl: Im Güterverkehr werden wir die Umrüstung auf die Digitale Automatische Kupplung geschafft und den Güterverkehr der Straße gegenüber deutlich effizienter und wettbewerbsfähiger gemacht haben.

Nicolas Lange: Der Güterverkehr sollte, so jedenfalls lauten ja die Ziele der EU, durch Schlüsselinnovationen und neue Prozesse 30 Prozent im Transportmix ausmachen. Momentan liegen wir in Europa im Schnitt bei 18 Prozent. Österreich zeigt, dass 30 Prozent möglich sind. Warum sollte das dann nicht für den ganzen Kontinent machbar sein?

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