Interview mit Dr. Jürgen Wilder: Ein substanzreiches Unternehmen.

Dr. Jürgen Wilder ist Vorstand der Division Systeme für Schienenfahrzeuge bei der Knorr-Bremse AG. Das Geschäftsfeld bereitet sich auf das autonome Fahren vor, reichert After-Sales-Services mit Datenanalyse an und will auch in das Kupplungsgeschäft einsteigen, um den Schienenverkehr effizienter zu machen.

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Das Originalinterview ist im Magazin „EISENBAHNTECHNISCHE RUNDSCHAU“ (ETR) Nr. 5/2019 erschienen.

Jürgen Wilder beschreibt Knorr-Bremse als Unternehmen mit einer langen Tradition und den Technologien, die für die Zukunft der Mobilität entscheidend sind.

Sie sind seit September 2018 Vorstand der Division Systeme für Schienenfahrzeuge bei Knorr-Bremse. Wo setzen Sie Ihre Schwerpunkte?

Knorr-Bremse ist über 114 Jahre alt. Seit den 1980er-Jahren sind wir auf einem starken Wachstumskurs, zuerst mit den Bremsen, dann mit weiteren Systemen für Schienenfahrzeuge. Wenn man so stark wächst und damit auch die Anzahl der installierten Produkte am Markt, ist es nur ein logischer Schluss, dass die After-Sales-Services ebenfalls wachsen müssen. Dies haben wir uns auch für die Zukunft auf die Fahne geschrieben. Natürlich ist Knorr-Bremse auch dadurch gewachsen, dass das Unternehmen Innovationsführer in vielen Bereichen war. Das wollen wir bleiben.

Wie sieht Ihre Innovationspolitik bei den Systemen für Schienenfahrzeuge aus?

Der Markt für Schienenfahrzeuge ist ein wachsender Markt. Mobilität wird inzwischen in Umfragen höher bewertetet als frisches Wasser – das ist ganz erstaunlich. Als Konzern, der Systeme für Mobilität anbietet, treffen wir damit den Zeitgeist. Durchschnittlich investieren wir 5,5 % unseres Umsatzes in Forschung und Entwicklung mit den Schwerpunkten auf Kostenreduktion, Urbanisierung und Klimaschutz. Wir haben darauf aufbauend sieben Innovationsrichtungen definiert: Connected Systems, automatisiertes und autonomes Fahren, neue Produktgenerationen, reibungsfreie Bremsen und luftdruckfreie Fahrzeuge, Data-driven Business, Life-Cycle-Kostenreduktion und Eco-Friendliness.

Woran arbeiten Sie beim automatisierten Fahren?

Wir arbeiten an einem Forschungsprojekt zum Brake Distance Management. Ziel ist, bei unterschiedlichen Witterungsverhältnissen den Lokführer zu unterstützen, punktgenau zu bremsen. Das ist eine wichtige Funktion, um beispielsweise die Taktung von Zügen zu erhöhen. Jede Bremsung muss dabei zuverlässig zum gleichen Haltepunkt führen. Eine solche Fahrerassistenz ist zwar noch kein automatisiertes Fahren, aber die entwickelte Technik ist eine Komponente davon.

Sie verwenden also Sensoren und werten Daten aus, die innerhalb und außerhalb der Fahrzeuge anfallen, um die Bremse zu steuern?

Genau. Dies ist ein iterativer Prozess, bei dem Rechenleistung eingesetzt wird, um einen Hochgeschwindigkeitszug letztendlich punktgenau zu bremsen.

Mit den Fahrerassistenzsystemen legen Sie die Grundlagen der Automatisierung?

Die Fahrerassistenzsysteme können heute schon zum automatisierten Fahren eingesetzt werden. Unser System „iCOM Assist“ beispielsweise wird bei der Deutschen Bahn als Advisory System eingesetzt, um den Energieverbrauch zu senken. In Australien fahren die Rio-Tinto-Züge mit diesem System schon vollkommen fahrerlos. Darüber hinaus kann durch den Einsatz von Fahrerassistenzsystemen die Infrastruktur besser ausgelastet werden. Mit neuen Technologien, wie sie uns jetzt durch die Beteiligung an RailVision zur Verfügung stehen, sind wir einen großen Schritt Richtung automatisiertes Fahren gegangen.

Sie haben sich vor kurzem bei RailVision eingekauft. Deren Spezialität ist die Hinderniserkennung für Schienenfahrzeuge.

Hinderniserkennung ist ein wichtiges Zukunftsthema. Wir als Knorr-Bremse müssen nicht alles selbst entwickeln. Manchmal sind kleinere Organisationseinheiten schneller bei innovativen Entwicklungen als Großunternehmen. Die Kunst liegt darin, das Potenzial einer Innovation zu erkennen und für uns zu nutzen. RailVision hat eine Technologie entwickelt, die in der Kombination von Bildererkennung und Infrarotstrahlen sehr weit nach vorne schauen kann, bis zu 2 km. Dies braucht man für autonomes Fahren.

Ein Lokführer kann heute in der Regel nicht 2 Kilometer überblicken.

Das stimmt. Doch wenn man das durch RailVision kann, kann man eine höhere Sicherheit im Bahnbetrieb erreichen. Außerdem, und das ist eine schnell umsetzbare Einsatzmöglichkeit, kann man mit den modernen Bilderkennungsverfahren den Zustand der Infrastruktur genau beobachten und danach sehr gezielt Instandhaltung im Gleisbett und im Umfeld des Gleisbetts vornehmen. Dadurch steigen die Effektivität und Effizienz der Instandhaltung. Solche abgeleiteten Mehrwerte versprechen wir uns als Ergebnis unserer Beteiligung an RailVision.

In welche Technologien werden Sie noch hineingehen in Bezug auf autonomes Fahren.

Wir bieten heute kein Komplettsystem für autonomes Fahren an. Dazu braucht man ein enges Zusammenspiel mit der Signaltechnik, die wir nicht im Portfolio haben. Aber wir glauben, dass wir gerade in Kombination mit der Bremse Elemente zur Verfügung stellen können, die gemeinsam ein Geschäftsmodell zulassen.

Sie hatten vorher reibungsfreie Bremsen und luftdruckfreie Züge erwähnt. Können Sie dies noch weiter ausführen?

Bei Elektromotoren kann man grundsätzlich ein Bremsen auch dadurch erreichen, indem man den Antrieb umdreht. Das hört sich einfach an, ist es in der Realität aber nicht. Es geht nur in gewissen Bremsbereichen und ersetzt sicher nicht von heute auf morgen die Reibungsbremse. Nichtsdestotrotz wollen wir diese Entwicklung genau verstehen und gegebenenfalls Implikationen auch für unser Geschäft ableiten.

Was fällt unter Connected Systems?

Wir haben in unserem Portfolio ein Train Control Management System von Selectron, mit dem wir unsere Subsysteme und ihre Controlling-Einheiten mit einer Kommunikationsmöglichkeit ausrüsten. Die Subsysteme werden so miteinander verbunden und können miteinander kommunizieren. Dies ist aber nicht spezifisch für unser Train Control Management System, sondern hersteller-agnostisch, denn es gibt Anbieter im Markt, die ein eigenes Train Control Management System für ihre eigenen Subsysteme anbieten.

Ist geklärt, wem die Daten gehören und wie mit ihnen zu verfahren ist?

Pauschal ist dies schwer zu beantworten. So weit sind wir noch nicht. Ich glaube persönlich, dass sich im Markt immer mehr die Einsicht durchsetzt, dass bei geschlossenen Systemen, wenn die Hersteller also ihre Daten nicht teilen, der Mehrwert dieser Daten sehr gering ist. Mehrwert entsteht erst durch die Kombination der Daten – denn indem ich unterschiedliche Diagnostiken verbinde, kann eine neue Ebene der Erkenntnis erreicht werden. Daraus können für die einzelnen Player neue Geschäftsmodelle entstehen. Die Zukunft wird zeigen, ob ich mit dieser Einschätzung richtig liege.

Auch wenn die Player im Wettbewerb stehen?

Am Markt ist Platz für alle. Jeder kann ein Stück des Kuchens abhaben. Natürlich hat jeder seine eigene Vorstellung, wie dieses Stück aussehen soll.

Mit einer Ebit-Marge von 17 % im Schienenfahrzeuggeschäft hat Knorr-Bremse ein schönes Stück vom Kuchen für sich herausgeschnitten.

Das Geschäft in der Schienenfahrzeugindustrie ist sehr langfristig ausgerichtet. In den vergangenen Jahrzehnten sind wir jährlich um mehr als 10 % gewachsen. Unsere Stärke ist, dass wir schon seit langem auf den Märkten etabliert sind, auch in Ländern wie Japan, wo es kaum europäische Player gibt. Die Kunden haben großes Vertrauen und wissen, wir haben das Know-how und sind zuverlässig.

Sie erwähnten ein durchschnittliches Wachstum von 10 %. 2018 lag das Wachstum im Bereich Systeme für Schienenfahrzeuge bei 6,2 %.

Wenn wir zurückschauen, gab es natürlich immer Schwankungen. Und man muss unterscheiden zwischen organischem Wachstum und dem Wachstum durch Zukauf. Für die Zukunft haben wir uns ein ordentliches Wachstum vorgenommen.

Sie haben in China 26 Metro-Aufträge bekommen. Angesichts der eigenen Fertigungskapazitäten Chinas – wo ist da noch Platz für Knorr-Bremse?

Es gibt sicherlich in China die Absicht, autarker in der Marktversorgung zu werden. Nichtsdestotrotz sind wir mit unseren Innovationen nach wie vor für den chinesischen Markt interessant. Die Zahlen unseres Asien-Geschäfts zeigen, dass dies für uns ein wachsender Markt ist – und das vor allem im Servicegeschäft. Wir haben uns unsere Position im chinesischen Markt in den letzten Jahrzehnten erarbeitet, verfügen dort über eine große installierte Basis und kommen sogar als Lieferant in Frage, wenn man aus Asien etwas in andere Länder exportiert.

Sie hatten das After-Sales-Geschäft als ein wichtiges Entwicklungsfeld angesprochen – augenblicklich liegt der Umsatzanteil bei etwas über 40 %. Welche Variablen müssen Sie hier besonders bedienen?

Der Servicebereich hat sich in den letzten Jahren enorm weiterentwickelt. Bei Vergaben spielen Life-Cycle-Kosten eine immer größere Rolle. Hier geht es darum, Serviceintervalle und Servicekosten so zu optimieren, dass man nichts Unnötiges tut. Selbstverständlich geht Sicherheit immer vor. Doch durch moderne Auswertung der Daten und die Beschreibung des tatsächlichen Zustands, nicht nur des projizierten, können wir heute schon sehr sicher ableiten, wann eine Komponente tatsächlich ausgetauscht werden muss. Wir können Modelle anbieten, mit denen sich die Zuverlässigkeit erhöht. Das ist attraktiv, wenn beispielsweise hohe Pönalen bei Ausfällen gezahlt werden müssen. Erhöhte Zuverlässigkeit führt auch dazu, dass Ausfallrisiken sinken und deshalb weniger Ersatz vorgehalten werden muss.

Spielen wir es einmal durch: Knorr-Bremse Subsysteme erfassen ihren eigenen Zustand, Knorr-Bremse wertet die Daten aus. An irgendeinem Punkt müssen diese Daten doch dann dem Fahrzeughersteller und/oder dem Betreiber übergeben werden und in deren Wartungssystem einfließen.

An welchem Punkt dies geschieht, ist Verhandlungssache und vertraglich abzusichern. Im Servicegeschäft haben wir sehr unterschiedliche Kunden. Natürlich haben wir Fahrzeughersteller als Kunden, aber auch große Betreiber, die die Instandhaltung weitestgehend selbst durchführen. Wenn man heute mit der Deutschen Bahn redet, taucht ein Thema immer wieder auf: die Vielfalt der Teile, die es zu managen gilt.

Der Fahrzeug-Zoo, wie Uwe Fresenborg als CEO der DB Instandhaltung das Phänomen nennt.

Als Lieferant von Subsystemen sehen wir es als unsere Aufgabe, die Komponenten weiter zu standardisieren, um diese Vielfalt auf Dauer zu minimieren und Kosten zu senken. Der Fahrzeughersteller trägt mit seinem Geschäftsmodell natürlich auch dazu bei, eine gewisse Standardisierung umzusetzen. Doch am Ende ist die Standardisierung effektiver auf der Subkomponenten-Ebene umzusetzen.

Spielt 3D-Druck für Sie schon eine Rolle?

Wir haben schon einige 3-D-Drucker installiert und testen die Technik. Bei Kleinserien, die schnell geliefert werden müssen, ist die Technologie durchaus sinnvoll. Ich sehe allerdings nicht, dass man damit Großserien ersetzen kann.

Sie sprechen viel von Effektivität. Haben Sie Ideen, wie sie im Schienengüterverkehr erhöht werden kann?

Das ist ein altes Hobby von mir. Tatsächlich können und müssen im Schienengüterverkehr Effizienzen gehoben werden. Aber ich sage auch nichts Neues, wenn ich betone, dass sich auch die politischen Rahmenbedingungen zugunsten des Schienengüterverkehrs ändern müssen. Als Knorr-Bremse können wir dazu beitragen, indem wir die Akzeptanz für Schienengüterverkehr durch leise Bremssohlen erhöhen. Ohne leisere Güterzüge wird der Schienengüterverkehr verständlicherweise bekämpft. Sicherlich hilft auch ein Produkt wie das Fahrerassistenzsystem iCOM Assist, deutlich Kosten zu sparen. Ein großes Thema sind auch automatische Kupplungen, um die manuellen Schritte beim Rangieren zu minimieren. Knorr-Bremse will auch ins Kupplungsgeschäft einsteigen. Wir haben dafür Forschungs- und Entwicklungsgelder zur Verfügung gestellt.

Also eine Automatische Mittelpufferkupplung von Knorr-Bremse?

Das wäre ein potenzielles Produkt.

Seit Herbst 2018 ist Knorr-Bremse an der Börse und seit Mitte März auch im M-Dax: Hat sich dadurch etwas für den Geschäftsbereich Systeme für Schienenfahrzeuge geändert?

Den sehr erfolgreichen Börsengang haben wir erreicht, weil wir ein substanzreiches Unternehmen sind. Unser Erfolgsrezept ist, innovative Produkte und Systeme zu haben und ebenso effizient wie verlässlich zu sein.

Bei einer Gewinnmarge von 18 % ist der Rationalisierungsdruck vielleicht nicht so hoch.

Wir würden niemals eine solche Gewinnmarge halten können, wenn wir nicht konstant an Effizienzsteigerung und neuen Produkten arbeiten würden. Wir werden uns sicherlich nicht auf der erreichten Marge ausruhen.

Trotzdem die private Frage: Wie entspannen Sie sich?

Ich arbeite sehr konzentriert und lange unter der Woche und versuche, mir am Wochenende Zeit für meine Familie zu nehmen.

Dr. Jürgen Wilder

Jürgen Wilder ist seit September 2018 als Vorstand der Knorr-Bremse AG weltweit verantwortlich für die Division Systeme für Schienenfahrzeuge. Der promovierte Physiker war zuvor von 2015 bis 2018 Vorstandsvorsitzender der DB Cargo und damit für den weltweiten Schienengüterverkehr der Deutschen Bahn zuständig. Nach seiner Promotion war Wilder wissenschaftlicher Mitarbeiter in Harvard. Er begann seine Tätigkeit in der Wirtschaft bei Siemens. Stationen dort waren unter anderem CEO Rolling Stock Business USA, Head of Strategy Infrastructure and Cities Sector sowie vor seinem Wechsel zu DB Cargo CEO Global Business Unit Mainline Transportation.

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