Wenn es auf ein stehendes Hindernis zugeht, können selbst routinierte Fahrer kurzfristig unter Stress geraten.
Dr. Frank Leitner – Produktmanager Automated Driving bei Knorr-Bremse Systeme für Nutzfahrzeuge
Notbremsassistenten helfen, Auffahrunfälle von Lkw zu vermeiden, etwa in Staus auf der Autobahn. Das fusionierte System aus Radar und Kamera von Knorr-Bremse reduziert Fehlauslösungen des technischen Assistenten und bremst bis zum Stehen, sollte der Fahrer trotz Warnsignal nicht eingreifen.
Die A11 von Berlin rauf nach Stettin: die Sonne steht senkrecht, das Radio bringt Nachrichten. Peter Maisels lässt am Steuer seines Sattelzuges die Gedanken schweifen: „Wie viel Wald brannte neulich in Mecklenburg-Vorpommern? Über 1.000 Hektar?“ Maisels versucht, sich die Zahl vorzustellen, schaut nach rechts in die vertrocknete Landschaft. Plötzlich piepst ein Warnton und kurz darauf geht ein Ruck durch seine Fahrerkabine. Maisels‘ Kopf wird nach vorn gezogen. Vor ihm steht der Verkehr. Doch noch ist genug Platz zum Fahrzeug vor ihm. Maisels kann vom Gas- aufs Bremspedal wechseln, die Situation hinter sich checken und die Warnblinker einschalten, um Kollisionen hinter sich zu vermeiden. Bevor sein Lkw endgültig zum Stehen kommt, greift er mit der rechten Hand nach seiner Thermosflasche. Die steckt zum Glück fest in ihrer Halterung.
Schon rund 80 Meter vor dem Stauende hatte Maisels‘ Notbremsassistent vorausschauend angefangen, akustisch zu warnen. Doch da war der Fahrer mit Gedanken zum Waldbrand beschäftigt. Deshalb hatte das Notbremssystem automatisch eine Teilbremsung eingeleitet. „Unser Bremsassistent beginnt ab gut 50 Metern zu bremsen, wenn sich die Entfernung zum vorausfahrenden Objekt weiter verringert“, erklärt Dr. Frank Leitner, zuständiger Produktmanager bei Knorr-Bremse Systeme für Nutzfahrzeuge GmbH. Das bedeute nicht gleich eine Vollbremsung, aber die Verzögerung von ein bis zwei Metern pro Sekunde im Quadrat lässt „das Fahrerhaus ordentlich nicken“. „Reagiert der Fahrer immer noch nicht, bremst unser Notbremsassistent ab 30 Metern Entfernung auf Null runter.“ Dabei wirken enorme Kräfte. Auf trockener Straße verzögert ein Lkw mit rund acht Metern pro Sekunde im Quadrat. Das entspricht in etwa einem Sportwagen, der 4,6 Sekunden braucht, um von 0 auf 100 km/h zu kommen – nur eben umgekehrt. Was sich beim Anfahren eines Sportwagens auf die gesamte Rückenlehne verteilt, wird beim Bremsen nur vom Gurt gehalten. Dazu kommt beim Lkw das Gefühl, dass die 40 Tonnen weiterschieben. „Wenn es auf ein stehendes Hindernis zugeht, können selbst routinierte Fahrer kurzfristig unter Stress geraten“, weiß Leitner.
Wenn es auf ein stehendes Hindernis zugeht, können selbst routinierte Fahrer kurzfristig unter Stress geraten.
Dr. Frank Leitner – Produktmanager Automated Driving bei Knorr-Bremse Systeme für Nutzfahrzeuge
Seit November 2015 ist der Notbremsassistent in Europa für neuzugelassene Fahrzeuge gesetzlich vorgeschrieben. Allerdings konnten ihn Fahrer nach der Zündung permanent abschalten. Dabei mutet die vorgeschriebene Verzögerungsleistung aus heutiger Sicht eher winzig an: Von 80 km/h sollte die Geschwindigkeit bis zum Aufprall gerade einmal auf 70 km/h reduziert werden. 2018 schärfte Brüssel nach: Mit der Neuregelung dürfen es bei Aufprall laut Gesetz aber immer noch 60 km/h sein.
Leitner: „Leitplanken in der Kurve, eine leicht abschüssige Straßenführung unter Überführungen, an denen möglicherweise auch noch große Straßenschilder angebracht sind, Inseln in Kreisverkehren an Orts-Ein- und Ausfahrten, Brückenpfeiler – all das müssen die Notbremsassistenten zuverlässig von echten Hindernissen auf der Fahrbahn unterscheiden.“ Dazu kommen Einfädler, die zwar kurzfristig Entfernungsgrenzen unterschreiten können, sich aber in der Regel kontinuierlich weiterbewegen. „Fusionierte Notbremsassistenten wie unsere kombinieren Videobild und Radarsensor und können das praktisch fehlerfrei erkennen. Sie vergleichen die Informationen aus beiden Quellen in Echtzeit, eliminieren damit die techniktypischen Fehler, berechnen fortlaufend die Abstandsentwicklung und bremsen – wenn es die Straßenverhältnisse erlauben – auf Null, sofern der Fahrer nicht eingreift“, so Leitner.
Sobald der Fahrer durch beherzten Druck aufs Gaspedal selbst ins Geschehen eingreift, schalten die Automatiken ab und geben die volle Kontrolle wieder zurück an den Fahrer. In der Warn- und Teilbremsphase reicht es sogar schon aus, wenn der Fahrer lenkt oder bremst. Für Klaus Bogumil ist das nur konsequent. „Die Assistenzsysteme können im Alltag sicher eine Unterstützung sein“, sagt der Fuhrparkleiter der Wormser Qualitätslogistik. Tatsächlich kann er sich an einen Unfall erinnern, bei dem ein Assistent hilfreich gewesen wäre. „Im Zweifel“, ist sich Bogumil sicher, „haben die Fahrer selbst jedoch den besseren Gesamtüberblick.“ „Fahrer bekommen beispielsweise auch mit, was hinter ihrem Lkw passiert. Das kann für die Frage ‚Spurwechsel oder nicht?‘ entscheidend sein“, erklärt Bogumil.
Auch Frank Leitner bekräftigt, dass „der Fahrer jederzeit Herr des Geschehens ist. Warum sollte der Automat vor einer Fahrbahnverengung auf Null runterbremsen, wenn der Fahrer erkennt, dass hinter dem gerade noch überholenden Pkw frei ist und er danach zügig nach links einscheren kann?“. Allerdings glaubt er auch, dass der Notbremsassistent Fehler eines menschlichen Fahrers durchaus zuverlässig korrigieren kann. Zum Beispiel, wenn der Fahrer dem ursprünglichen Hindernis ausweicht, aber die Nebenspur gar nicht frei ist. Normalerweise verliert die Notbremsautomatik das Hindernis und bricht den Bremsvorgang ab. Leitner: „Unser Multi-Lane-System bremst auch weiter, wenn die Nebenspur durch ein weiteres Objekt blockiert ist – bis zum Stehen.“ Das wäre dann wieder der Moment, in dem Peter Maisels nach seiner Thermosflasche greifen würde.